Wo liegt die Grenze zum Kindesmord?

Schadenersatz für eine unterbliebene Abtreibung führt die Gesellschaft auf gefährliche Wege.

Cartoon Richter spricht Recht
unbekannt

Der Kommentar ist in „Die Presse“ erschienen:

Nun ist es so weit: Österreich schließt sich der Reihe der Staaten an, in denen bei der Geburt eines behinderten Kindes in bestimmten Fällen den Eltern ein Anrecht auf Schadenersatz zugesprochen werden kann. Dann nämlich, wenn die Behinderung bei verschiedenen pränatalen Untersuchungen von den Ärzten „übersehen“ wurde und somit der Fötus nicht abgetrieben werden konnte.

In Deutschland erging das erste entsprechende Urteil schon 1984, 1998 sprach sich auch das deutsche Bundesverfassungsgericht für eine Arzthaftung in solchen Fällen aus. In den USA existiert bereits eine längere Tradition dieser sogenannten „wrongful life-Rechtsprechung“. So kann in den USA auch im Namen des behinderten Kindes dessen „Recht auf Nichtexistenz“ wegen Behinderung eingeklagt werden, das durch unterlassenen Abbruch verletzt wurde.

Diese Gerichtsurteile spiegeln eine gesellschaftliche Realität, in der Biologie und Medizin in der Entschlüsselung der Entstehung des Lebens sehr weit vorangekommen sind und daraus das Recht – und die soziale Pflicht – zur Verhinderung unerwünschter Entwicklungen, also konkret: kranker und behinderter Babys, abgeleitet wird. Nur: eine Beseitigung der pränatal diagnostizierten Behinderung ist in den allermeisten Fällen nicht möglich, möglich ist nur eine Beseitigung des Trägers der Behinderung.

Dies ist in Österreich bei Vorliegen einer ernsten Gefahr, „daß das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein wird“ (so der Gesetzestext) grundsätzlich bis zum Tag vor der Geburt erlaubt. Gleichzeitig aber haben aufgrund der medizinischen Entwicklung Frühgeborene ab der 25. Schwangerschaftswoche reale Überlebenschancen. Wo ist also die Grenze zum Kindesmord?

Ein deutscher Geburtshelfer, Prof. Dr. Joachim W. Dudenhausen vom Virchow-Klinikum Berlin, spricht diese Problematik offen an: „Jede Klinik, die Abbrüche jenseits, sagen wir mal der 20. Woche, macht oder gemacht hat, erlebt diese Situation, daß ein Kind lebend geboren wird, obwohl das Ziel dieses Tuns eigentlich ein anderes ist, nämlich ein totes Kind.“ Was also tun bei einem solchen „Betriebsunfall“: die „erlösende Spritze“? Liegenlassen, bis sich das „Problem“ von selber löst ?

Ein Durchdenken der Konsequenzen der Entscheidung des OGH und der diese Entscheidung erst ermöglichenden rechtlichen Situation zeigt, daß sich unsere Gesellschaft auf einem gefährlichen Pfad befindet. Der Verlust definierter und definierbarer Grenzen birgt die Gefahr in sich, daß ethisch-moralische Standards schrittweise ausgehöhlt werden und eine Praxis der vorgeburtlichen Selektion sich etabliert.

Das Lebensrecht behinderter Menschen wird auf diese Weise ernsthaft in Frage gestellt. Der Verein Schloß Hartheim wendet sich entschieden gegen diese Entwicklungen und fordert die Verantwortungsträger in Staat und Gesellschaft auf, durch geeignete Maßnahmen dafür zu sorgen, daß die Klassifizierung in „lebenswertes“ und „lebensunwertes“ Leben nicht zum Leitprinzip gesellschaftspolitischen Handelns wird. Eine solche Abstempelung behinderten Lebens bedeutet nämlich einen großen Schritt in eine Vergangenheit, die wir alle längst überwunden glaubten.

Der Verein Schloß Hartheim wurde 1995 gegründet. Ausgangspunkt der Vereinstätigkeit ist Schloß Hartheim in Alkoven bei Linz, wo im Nationalsozialismus im Rahmen der verschiedenen „Euthanasie“-Aktionen mindestens 30.000 behinderte und kranke Menschen ermordet wurden.

Gastkommentar von Brigitte Kepplinger. Die Autorin ist Assistentin am Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik der Universität Linz, Vorstandsmitglied des Vereins Schloß Hartheim.

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