Zahl der gerichtlichen Erwachsenenvertretungen sinkt

VertretungsNetz zieht dennoch durchwachsene Bilanz nach dreieinhalb Jahren Erwachsenenschutzgesetz. Inklusion muss erst ermöglicht werden.

Broschüre zum Erwachsenenschutzgesetz
Justizministerium

2018, als das 2. Erwachsenenschutzgesetz in Kraft trat, gab es einen Höchststand von rd. 52.700 Sachwalterschaften in Österreich.

Nach dreieinhalb Jahren ist die Zahl der aufrechten „gerichtlichen Erwachsenenvertretungen“, wie sie jetzt genannt werden, um mehr als 30 Prozent auf 36.500 zurückgegangen.

Bei VertretungsNetz begrüßt man den Rückgang an gerichtlich bestellten Vertretungen als eines der großen Ziele der Reform. (siehe auch)

Statistik der Entwicklung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung in Österreich als Balkendarstellung. Gemacht vom VertretungsNetz. Stand jeweils 1.1 außer 2018, da 1.7. 2018: 52.746, 2019: 50.204, 2020: 45.709, 2021: 42.474, 2022: 36.505
VertretungsNetz

Bis Ende 2023 läuft noch die fünfeinhalbjährige Übergangsfrist, innerhalb derer die Gerichte alle bereits vor Juli 2018 bestehenden „alten Sachwalterschaften“ in Österreich überprüfen müssen, ob sie noch notwendig sind. Dass das nahende Ende der Frist den Gerichten zunehmend bewusst wird, merkt man bei VertretungsNetz:

„Seit letztem Jahr steigt die Anzahl der Clearingaufträge zu alten Sachwalterschaften, die wir von den Gerichten erhalten, stark an“, berichtet Martin Marlovits, stv. Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz.

Diese verpflichtende Abklärung durch die Erwachsenenschutzvereine im Rahmen des Verfahrens hat sich als entscheidend erwiesen für den Rückgang an gerichtlich bestellten Vertretungen.

Bei „alten Sachwalterschaften“ kann in jedem fünften Fall die Aufhebung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung empfohlen werden. Bei Verfahren, die in den letzten dreieinhalb Jahren neu angeregt wurden, sind es sogar vier von zehn (41 %), in denen der Verein nach genauer Prüfung der Lebensumstände zum Ergebnis kommt, dass es keine gerichtliche Vertretung braucht – weil es z.B. Unterstützung aus dem sozialen Umfeld gibt oder eine andere Form der Vertretung möglich ist.

Selbst entscheiden trotz Beeinträchtigung

Ein Beispiel für eine Vertretung mit mehr Selbstbestimmung ist die „gewählte Erwachsenenvertretung“. Hier kann man selbst entscheiden, wer in welchen Angelegenheiten vertreten soll. Die Expertise der Erwachsenenschutzvereine ist bei solchen Vertretungsmodellen gefragt:

Sechs von zehn gewählten Erwachsenenvertretungen wurden bisher bei einem der vier anerkannten Vereine Österreichs errichtet, fast 2.800 davon bei VertretungsNetz. Insgesamt gibt es österreichweit derzeit schon rund 5.600 gewählte Erwachsenenvertretungen, Tendenz steigend.

Mit einer „gesetzlichen Erwachsenenvertretung“, einer weiteren neuen Vertretungsvariante, kann sich ein/e Angehörige/r als VertreterIn eines Menschen registrieren lassen, wenn dieser seine Vertretung nicht (mehr) wählen kann oder will, z.B. weil eine demenzielle Erkrankung zu weit fortgeschritten ist.

In den letzten drei Jahren wurden österreichweit ca. 21.100 solcher Vertretungen registriert. Wo immer möglich, empfiehlt VertretungsNetz jedoch die Errichtung einer gewählten Erwachsenenvertretung, da diese am ehesten den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht wird.

Geht es nach dem Gesetz, darf es jedoch überhaupt keine Erwachsenenvertretung geben, wenn „bloße“ Unterstützung ausreicht, damit auch Menschen mit einer eingeschränkten Entscheidungsfähigkeit ihre Angelegenheiten selbst besorgen können. Hier sind primär die Bundesländer aufgefordert, entsprechende Unterstützungsleistungen zur Verfügung zu stellen. Das Angebot bleibt bisher jedoch unzureichend.

„Es fehlen Leistungen wie Persönliche Assistenz und soziale Dienste. Auch der Zugang zu Behörden ist immer noch mit einer Vielzahl von Barrieren verbunden“, ortet Marlovits hohen Nachholbedarf.

Von Selbstbestimmung und Inklusion noch weit entfernt

Wird ein/e ErwachsenenvertreterIn bestellt, muss sie/er sich jedenfalls bemühen, dass die vertretene Person ihr Leben trotzdem nach ihren Wünschen und Vorstellungen gestalten kann. Bei wichtigen Entscheidungen muss die/der Betroffene einbezogen werden.

Ganz entscheidend: Seit der Reform des Erwachsenenschutzrechts bleiben auch Menschen mit gesetzlicher Vertretung grundsätzlich geschäfts- und handlungsfähig. Sie müssen nicht mehr für jede Entscheidung ihre/n ErwachsenenvertreterIn um Erlaubnis fragen.

„Leider ist dieser Teil der Reform in der Praxis noch nicht überall angekommen“, bedauert Marlovits. Haftungsängste, Sicherheitsdenken, aber auch die Unkenntnis der neuen Rechtslage führen dazu, dass z.B. Vertrags- und Geschäftspartner Verträge ohne Zustimmung der Erwachsenenvertretung verweigern. Es gibt immer noch Banken, bei denen Personen mit Erwachsenenvertretung kein Konto errichten dürfen.

„VertretungsNetz sucht in solchen Fällen das Gespräch, behält sich aber auch juristische Schritte vor, um die Rechte unserer KlientInnen durchzusetzen“, so Marlovits. Denn das beste Gesetz nützt nichts, wenn es in der Praxis nicht angewendet wird.

Das 2. Erwachsenenschutz-Gesetz ist ohne Frage ein großer Schritt in die richtige Richtung. Das Bewusstsein in der Gesellschaft wurde gestärkt, dass auch Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen oder psychischen Erkrankungen ein Recht auf Mitbestimmung haben. Doch die Bereitschaft, eingeübte Muster und Prozesse aufzugeben, ist begrenzt und endet meist dort, wo es mit Aufwand und Kosten verbunden ist.

Es geht aber nicht darum, Menschen mit Behinderungen zu befähigen, Strukturen zu nutzen, die für Menschen ohne Behinderungen passend sind – sondern um eine Öffnung aller Bereiche hin zu einer inklusiven Gesellschaft, in der kein Mensch mehr daran gehindert wird, selbstbestimmt zu leben. Der Weg bis dahin ist noch ein weiter.

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