„Es war sehr schön, es hat mich sehr geschützt!“

Die Chronik einer Schutzbestimmung für behinderte Menschen vor den Tücken und Fallen des Geschäftslebens.

Jagd nach dem Recht
Krispl, Ulli

Dass behinderte Menschen vor der „gefährlichen und bösen Welt“ besonders zu schützen sind, war anno dazumal und ist auch heute eine weit verbreitete Meinung. In den Augen vieler Menschen galt und gilt aber die Blindheit als „furchtbarste Behinderung von allen“, und so kommt es, dass gerade blinde Menschen als am schützenswertesten angesehen werden.

Die Chronik jener Schutzbestimmung des österreichischen Rechts, die wohl am meisten die Freiheit blinder Menschen im Geschäftsleben und damit die Chancengleichheit beschränkt soll hier gezeigt werden:

  • 25. Juli 1871: Das sogenannte Notariatsaktszwangsgesetz der Monarchie wird kundgemacht, in dem § 1 Abs. 1 lit. E folgendes regelt:

    „§ 1 (1) Die Giltigkeit der nachbezeichneten Verträge und Rechtshandlungen ist durch die Aufnahme eines Notariatsaktes über dieselben bedingt:

    e) alle Urkunden über Rechtsgeschäfte unter Lebenden, welche von Blinden, oder welche von Tauben, die nicht lesen, oder von Stummen, die nicht schreiben können, errichtet werden, sofern dieselben das Rechtsgeschäft in eigener Person schließen.“

  • März 1999: Diese Bestimmung wird von den Interessenvertretungen der behinderten Menschen als Diskriminierung qualifiziert und sohin von der Arbeitsgruppe zur Durchforstung des Bundesrechts nach behindertendiskriminierenden Bestimmungen im Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst auch in den im März 1999 veröffentlichten diesbezüglichen Durchforstungsbericht aufgenommen.
  • Oktober 1999: Die Benachteiligung durch die finanzielle Belastung – Notariatstarife für die Errichtung von Notariatsakten – soll durch eine Sonderbestimmung der Standesrichtlinien für Notare entschärft werden.
  • 7. August 2001: Es wird mit einer Novelle zum Notariatstarifgesetz, BGBl. I Nr. 98/2001, eine Spezialregelung geschaffen; diesbezüglich regelt nun § 4a des Notariatstarifgesetzes unter der Überschrift „Gebühr bei Behinderung einer Partei“:

    „§ 4a. Ergibt sich bei sonst gleichen Voraussetzungen für die Erfüllung eines Auftrages aus der Behinderung einer Partei ein zusätzliches oder strengeres Beurkundungserfordernis, ist dieser Umstand bei Berechnung der tarifmäßigen Gebühr außer acht zu lassen.“

    Was darunter zu verstehen ist, wird besonders in den Erläuterungen zu diesem Gesetz und der Beantwortung des Bundesministers für Justiz vom Mai 2002 zu einer diesbezüglichen parlamentarischen Anfrage deutlich, wo es heißt:

    „Nach dem in das NTG neu eingefügten § 4a darf bei sonst gleichen Voraussetzungen ein sich bei Erfüllung eines Auftrages aus der Behinderung einer Partei ergebendes zusätzliches oder strengeres Beurkundungserfordernis keine Erhöhung der tarifmäßigen Gebühr zur Folge haben. Dies bedeutet, dass in jenen Fällen, in denen für eine nicht behinderte Person nur ein geringeres Beurkundungserfordernis notwendig wäre, auch dem Behinderten – trotz der Notwendigkeit der Errichtung eines Notariatsakts – nur die geringere Gebühr in Rechnung gestellt werden darf.“

    Auf gut Österreichisch: Gratis ist der Notariatsakt also nicht!

  • 7. August 2001: Die Änderung des § 1 Abs. 1 lit. E des Notariatsaktsgesetzes wird im Bundesgesetzblatt I Nr. 98/2001 kundgemacht; § 1 Abs. 1 lit. E Notariatsaktsgesetz lautet seitdem:

    „§ 1 (1) Die Giltigkeit der nachbezeichneten Verträge und Rechtshandlungen ist durch die Aufnahme eines Notariatsaktes über dieselben bedingt:

    e) alle Urkunden über Rechtsgeschäfte unter Lebenden, welche von Blinden, oder welche von Tauben, die nicht lesen, oder von Stummen, die nicht schreiben können, errichtet werden, sofern dieselben das Rechtsgeschäft in eigener Person schließen; dies gilt nicht für von Blinden errichtete Urkunden über Rechtsgeschäfte, wenn das Rechtsgeschäft eine Angelegenheit des täglichen Lebens betrifft und eine von der blinden Person beigezogene Vertrauensperson die Urkunde über das Rechtsgeschäft mit unterfertigt. Gleiches gilt für bankübliche Verträge über die Eröffnung von Girokonten.“

  • Zur Intensivierung dieses Schutzes behinderter Menschen vor den Tücken der Geschäftemacher wurde mit derselben Novelle dem § 1 Notariatsaktsgesetz auch ein Absatz 3 angefügt:

    „(3) Auf die Ungültigkeit eines Rechtsgeschäftes wegen Fehlens des nach § 1 Abs. 1 lit. e erforderlichen Notariatsaktes kann sich nur die behinderte Person berufen.“

Nun, damit vermeinte das Justizministerium den Spagat zwischen dem „unverzichtbaren Schutzbedürfnis“ und unnotwendigen Beschränkungen behinderter Menschen geschafft zu haben; doch die Lebensrealität belehrt uns eines besseren.

Nun klingt es ja für´s erste ganz annehmbar, dass man Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens nun auch ohne Notariatsakt schließen kann, wenn eine Vertrauensperson des blinden Menschen dieses Rechtsgeschäft mitunterzeichnet, doch die Erläuterungen zum Gesetz zeigen bereits, dass das so toll nicht ist, wie es klingt; so heißt es etwa in den Erläuterungen:

„Im Anschluss daran wird nunmehr aber eine Einschränkung der Notariatsaktspflicht für Rechtsgeschäfte von Blinden normiert. Diese Einschränkung ist so ausgestaltet, dass unter Berücksichtigung des unverzichtbaren Schutzaspekts lediglich nicht notwendige Beschränkungen der Möglichkeit blinder Personen, rechtsgeschäftlich zu verfügen, wegfallen sollen. Von Blinden errichtete Urkunden über Rechtsgeschäfte, die die Angelegenheiten des täglichen Lebens betreffen, unterliegen demgemäß unter der Bedingung nicht mehr der Notariatsaktspflicht, dass eine von der blinden Person beigezogene Vertrauensperson die Urkunde über das Rechtsgeschäft mitunterfertigt. Diese Vertrauensperson muss unbefangen sein, d.h. das beabsichtigte Rechtsgeschäft darf die wirtschaftlichen oder sonstigen Interessen der Vertrauensperson nicht betreffen.“

Naja, da fragt sich auch, was ist denn, wenn man keine solche Vertrauensperson hat? Und was, wenn man gar dieser Vertrauensperson mit dem Rechtsgeschäft etwas zukommen lassen – schenken oder kaufen – will? Die Antwort ist einfach; dann bleibt wieder nur ein Notariatsakt. Und der ist, wie sich gezeigt hat, noch immer nicht gratis; ganz abgesehen von den zusätzlichen Wegen, die gerade für blinde Menschen nicht wenig erschwerend wirken.

Es fragt sich aber auch, was unter Rechtsgeschäften des täglichen Lebens überhaupt zu verstehen ist; ist das ein Vertrag über eine Mietwohnung, ein Möbelkauf, der Kauf von elektronischen Geräten, ein Versicherungsvertrag? Nun, die meisten davon werden wohl nicht als Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens anzusehen sein. Da jedoch das Gesetz und die Erläuterungen dazu keine Nähere Erklärung geben, wird man sich als blinder Mensch halt immer wieder der Willkür der Geschäftsleute aussetzen müssen und letztlich, wenn man das Geschäft machen will oder muss, doch, ob man will oder nicht, wieder auf den Notariatsakt zurückkommen müssen.

Und auch der Passus, dass die Eröffnung von Girokonten nicht mit Notariatsakt erfolgen muss, gilt nach den Erläuterungen zum Gesetz schon dann nicht mehr, wenn mit diesem Konto ein umfangreicher Überziehungsrahmen verbunden ist:

„Da Vertreter der Behindertenorganisationen die Notariatsaktspflicht besonders bei der Eröffnung von Girokonten durch blinde Personen als unnötig beschränkend erachteten, wurde durch eine demonstrative Hervorhebung („insbesondere“) klargestellt, dass Verträge über die Eröffnung von Girokonten grundsätzlich zu den in der neuen Bestimmung des § 1 Abs. 1 lit. e Notariatsaktsgesetz angesprochenen Rechtsgeschäften über Angelegenheiten des täglichen Lebens zählen; dies gilt jedoch nur für solche Verträge über die Eröffnung von Girokonten, deren Folgen nicht die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der blinden Person gefährden. Diese Einschränkung wird etwa bei im Verhältnis zum Einkommen der blinden Person unverhältnismäßig weitreichenden Möglichkeiten der Kontoüberziehung Bedeutung haben. Von einer völligen Beseitigung der Notariatsaktspflicht für Blinde wurde dagegen abgesehen. Damit soll vermieden werden, tatsächlich vorhandene Schutzbedürfnisse behinderter Personen leichtfertig außer acht zu lassen.“

Naja, damit wäre ja alles klar; Sie brauchen sich daher als blinder Mensch, der mit beiden Beinen im Leben steht weiterhin nicht zu wundern, wenn ein Bankinstitut Ihnen die Eröffnung eines Girokontos ohne Notariatsakt verweigert oder Ihnen nur deshalb, weil Sie blind sind, keine Bankomatkarte geben will. Alles schon mehrfach da gewesen. Ja und zahlen müssen Sie für die Dienste des Notars natürlich auch weiterhin, wenn auch vielleicht etwas weniger.

Da kann man nur frei nach Kaiser Franz Joseph sagen: „Es war sehr schön, es hat mich sehr geschützt!“

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