Gottfried Biewer

Biewer: „Ich halte es für ganz schlecht“

Wir führten mit Univ. Prof. Dr. Gottfried Biewer, Professor für Sonder- und Heilpädagogik der Universität Wien, ein Interview zu den dramatischen Kürzungsplänen am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck.

BIZEPS-INFO: Welchen Stellenwert geben Sie Disability Studies und sollten diese in Österreich entwickelt bzw. weiterentwickelt werden?

Univ. Prof. Dr. Gottfried Biewer: Disability Studies sehen Behinderung im Wesentlichen in der Umwelt, die Menschen behindert, und forschen aus der Perspektive der Betroffenen.

Sie sind in den angelsächsischen Ländern entstanden und beginnen als inhaltlicher und methodischer Forschungsansatz im deutschen Sprachraum langsam Fuß zu fassen. Sie stehen auch im Einklang mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, nicht nur über behinderte Menschen zu forschen, sondern diese auch in den Forschungsprozess mit einzubeziehen.

BIZEPS-INFO: Glauben Sie, reicht die Lehrkanzel, die Sie inne haben, um Fragen der Inklusion und Selbstbestimmung ausreichend in Österreich wissenschaftlich zu bearbeiten?

Biewer: Forschungs- und Lehrkapazitäten können meiner Meinung nach an Universitäten nur gemeinsam betrachtet werden. Die Betreuung einer großen Zahl von Studierenden erschwert die Bereitstellung von Zeitressourcen für Forschung. Gleichzeitig sind die Arbeiten von und mit Studenten auch ein Teil der Produktion universitärer Forschung. Ungünstige Personal-Studenten-Relationen beeinträchtigen daher Forschung und Ausbildung gleichermaßen.

Im Vergleich zu anderen Ländern in der EU verfügt die universitäre Sonder- und Heilpädagogik in Österreich nur über sehr geringe personelle Ressourcen und damit auch Forschungskapazitäten, muss aber mit ähnlich hohen Studentenzahlen und breiten wissenschaftlichen Aufgabenstellungen wie in anderen Ländern zu Rande kommen. Von den mehr als 3.000 Pädagogik-Studenten an der Universität Wien wählt ungefähr die Hälfte Schwerpunkte aus dem Bereich der Sonder- und Heilpädagogik.

Gleichzeitig bestehen Erwartungen, in Forschung und Lehre ein inhaltlich breites Spektrum abzudecken, für das es in Deutschland Professuren mit spezifischer Ausrichtung gibt (z.B. Berufliche Rehabilitation, Gehörlosenpädagogik, usw.). Als Ergebnis meiner Berufungsverhandlungen an der Universität Wien konnte der Personalbestand der Forschungseinheit „Heilpädagogik und Integrative Pädagogik“ um 2 weitere Mitarbeiterstellen aufgestockt werden. In diesem Jahr ist in Wien durch den Personalzuwachs eine leichte Entspannung eingetreten.

Innsbruck stellte trotz schmaler Personalausstattung bisher auch eine attraktive Studienstätte für das Fach Behindertenpädagogik und Integrative Pädagogik dar. Ich befürchte, dass dies mit den Stellenstreichungen verloren geht. Als Folge könnte ich mir eine weitere Konzentration der Studentenströme auf die Universität Wien vorstellen, mit der Folge dass wir hier wieder zunehmend Probleme bekommen die Studentenmassen zu bewältigen.

Auch im Hinblick auf die Regionalentwicklung halte ich es für ganz schlecht, wenn das Fach Behindertenpädagogik und Integrative Pädagogik in Westösterreich nicht mehr angemessen vertreten ist.

BIZEPS-INFO: Welchen Stellenwert hat die digitale Volltextbibliothek BIDOK im allgemeinen und welchen Stellenwert für Sie persönlich?

Biewer: Online-Datenbanken stellen ein wichtiges Medium dar um den Zugang zu wissenschaftlichen Texten zu gewährleisten. BIDOK ist im Unterschied zu anderen inzwischen eingerichteten Datenbanken für jedermann frei zugänglich.

In einer Zeit in der der Zugang zu wissenschaftlichen Texten (insbesondere in den angelsächsischen Ländern) zunehmend kommerziellen Interessen unterworfen wird, kann dieser freie Zugang zu wissenschaftlichen Texten auch für Nicht-Universitäts-Angehörige gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ich greife öfters auf BIDOK-Texte zurück, auch wenn das thematische Spektrum etwas eingeschränkt ist. Die Textbestände sind hier aber sicherlich noch ausbaufähig.

Die drittmittelfinanzierte Datenbank BIDOK ist zwar von den Stellenstreichungen nicht unmittelbar betroffen, es ist aber nur schwer vorstellbar, dass sie mit gleichem Erfolg wie bisher arbeiten kann, wenn das personelle Umfeld beim wissenschaftlichen Personal weg bricht.

BIZEPS-INFO: Wie realistisch ist Ihrer Meinung nach die vom Rektor Gantner genannte Möglichkeit einer Stiftungsprofessur?

Biewer: Eine Professur stiftet nur, wer ein Interesse daran hat, dass ein entsprechender neuer Bereich eingerichtet wird. So wurde im vergangenen Herbst an der Universität Wien eine Stiftungsprofessur für Pflegewissenschaft eingerichtet, die gegenwärtig von der Caritas finanziert wird. Im Interesse eines Wohlfahrtsverbandes können damit erstmals in Österreich auf universitärer Ebene Fragestellungen bearbeitet werden, an denen ein außeruniversitäres Interesse besteht.

Nachdem es Pflegewissenschaft in anderen Ländern schon seit Jahrzehnten an den Universitäten gibt, hat das Fach durch die Stiftungsprofessur in Österreich erstmals seinen Fuß in die Universität gesetzt.

Die Situation der Integrativen Pädagogik in Innsbruck ist aber gänzlich anders. Hier gab es bereits eine gut arbeitende Forschungseinheit, die staatlich finanziert wurde. Behinderte Menschen haben keine finanzkräftige Lobby, abgesehen davon, dass es für potentielle Stifter keine große Motivation darstellt, etwas zu finanzieren, auf das die Universität auf Grund anderer Gewichtungen glaubt verzichten zu können.

BIZEPS-INFO: Wir danken für das Interview.

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