Adolf Ratzka zur Frage nationaler Richtlinien für Persönliche Assistenz

Was müssen nationale Richtlinien für Persönliche Assistenz enthalten und wie kann man sich dafür einsetzen? Diesen und anderen Fragen zum Thema Persönliche Assistenz widmet sich ein Pionier der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und langjähriger Kämpfer für Persönliche Assistenz, Adolf Ratzka.

Adolf Ratzka
Anca Voinea

Seine Persönlichen Assistenten ermöglichten es ihm, zu studieren, zu arbeiten und so zu leben, wie er es wollte, mit romantischen Beziehungen, Reisen, einem reichen sozialen Leben, inklusive Heirat und Familie.

Persönliche Assistenz ist für den bekannten Behindertenaktivisten, Adolf Ratzka, der auf einen Elektrorollstuhl und auf ein Beatmungsgerät angewiesen ist, der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben in der Gesellschaft.

Ein solches Leben mit umfangreicher Unterstützung durch Persönliche Assistenz ist leider nicht selbstverständlich. Würde er in einem anderen Land leben, sähe sein Leben möglicherweise ganz anders aus: „In Ländern ohne persönliche Assistenzdienste – also in den meisten Teilen der Welt – hätte ich keine Selbstbestimmung gehabt. Nur mit der Hilfe meiner Familie wäre ich sehr eingeschränkt gewesen. In einer stationären Einrichtung wäre ich wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten gestorben“, so Ratzka.

Was Richtlinien für Persönliche Assistenz alles enthalten müssen

Damit Persönliche Assistenz Menschen mit Behinderungen ermöglicht, unter gleichen Bedingungen und mit den gleichen Wahlmöglichkeiten zu leben, wie sie Menschen ohne Behinderungen haben, müssen Richtlinien für Persönliche Assistenz laut Ratzka folgende Hauptbedingungen erfüllen:

  • Kontrolle über die Persönliche Assistenz, das heißt, die Assistenznehmerin oder der Assistenznehmer sucht seine Assistentinnen und Assistenten selbst, stellt sie ein, bildet sie aus, usw. Die Assistenz richtet sich nach den individuellen Lebensumständen der Assistenznehmerin oder des Assistenznehmers.
  • Direkte Zahlungen der Regierung für die Entlohnung der Assistentinnen und Assistenten, denn ohne die Kontrolle über das Geld kann man nicht Arbeitgeberin oder Arbeitgeber sein und man hat keine freie Wahl bei den Dienstleistungen oder bei wichtigen Entscheidungen, die die Einstellung, Entlohnung oder die Entlassung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreffen.
  • Die Zahlungen müssen die Kosten für alle benötigten Assistenzstunden decken und einem zudem ermöglichen, wettbewerbsfähige und gerechte Löhne zu zahlen.

Mit welchen Argumenten kann man sich für Persönliche Assistenz in den Ländern einsetzen

Adolf Ratzka warnt davor, damit zu argumentieren, dass Persönliche Assistenz für die Regierung billiger sein würde, denn Einrichtungen mit wenig Platz und wenig Personal kämen der Regierung kostengünstiger als Persönliche Assistenz.

Stattdessen solle man damit argumentieren, dass mit dem gleichen Betrag, den Institutionen für jede und jeden ihrer Bewohnerinnen und Bewohner erhalten, den meisten Bewohnerinnen und Bewohner mit Persönlicher Assistenz ein besseres Leben in der Mitte der Gesellschaft ermöglicht werden könnte.

Institutionen investieren erhebliches Geld in Grundstücke und Gebäude. Bei Persönlicher Assistenz sind alle Kosten Löhne. Die Assistentinnen und  Assistenten verwenden wiederum ihren Lohn für Lebensmittel oder Miete. Das fördert die Wirtschaft eines Landes.

In Schweden arbeiten rund 50.000 Menschen als Assistentinnen und Assistenten. Assistenz schafft somit Arbeitsplätze. Auch die Familienangehörigen können dadurch, dass sie nicht mehr die Pflege von Angehörigen übernehmen müssen, in den von ihnen gewählten Interessensgebieten arbeiten.

Überlastung in Heimen und Elternhäusern kann zu physischer oder sexueller Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen führen. Persönliche Assistenz ist also auch mit Gesundheit und Sicherheitsfragen für die Assistenznehmerin oder den Assistenznehmer verbunden.

Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die Institutionalisierung durch mangelnde Stimulation und durch Ausschluss von Familie, Freundinnen, Freunden und Gesellschaft zu verzögerter Entwicklung und zum Verlust sozialer Fähigkeiten führt.

Während der aktuellen Corona-Krise sei ein höherer Prozentsatz von älteren Menschen in Heimen gestorben als in der Gemeinschaft.

Persönliche Assistenz ist ein Menschenrecht. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen schreibt das Recht von Menschen mit Behinderungen fest, unabhängig in der Gesellschaft zu leben und zwar zu den selben Bedingungen, wie Menschen ohne Behinderungen.

Der allgemeine Kommentar Nummer fünf der UN-Behindertenrechtskonvention macht zudem deutlich, dass Einrichtungen schrittweise abgebaut und durch Persönliche Assistenzdienste ersetzt werden müssen.

Strategien für eine menschenwürdige Gesellschaft

Damit alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Chancen haben, in der Gesellschaft sicher und gesund zu leben und ihr Potential auszuschöpfen, braucht es folgende Strategien:  

  • Mehr barrierefreien Wohnraum
  • Schrittweiser Abbau stationärer Einrichtungen – Mittel für Institutionen sollen in direkte Zahlungen für Persönliche Assistenz umgewandelt werden. Um das durchzusetzen, ist es wichtig, dass Behindertenorganisationen insbesondere auf nationaler Ebene besser zusammenarbeiten und sich gemeinsam für das Thema Persönliche Assistenz einsetzen.
  • Nationale Organisationen für Persönliche Assistenz schaffen – in diesen Organisationen ist jede und jeder willkommen, der für das Ziel der Persönlichen Assistenz arbeiten möchte, unabhängig von seiner oder ihrer Diagnose oder Zugehörigkeit zu einer anderen Organisation. Auch soll mit Menschen im Ruhestand und älteren Menschen zusammengearbeitet werden. Wenn man Organisationen für ältere Menschen miteinbezieht, kann man mehr Aufmerksamkeit vom Gesetzgeber bekommen. Diese Organisationen müssen erkennen, dass ihre Mitglieder nicht nur alt sind, sondern früher oder später eine Behinderung bekommen können und damit auf die Hilfe anderer angewiesen sein können.

Ratzka betont abschließend: „Wir müssen unsere Anstrengungen verdoppeln, damit alle – vor allem wir selbst – unsere Position verstehen und sich mit ihr identifizieren: Auch wenn wir anders aussehen, gehen oder uns anders verhalten, sind wir zutiefst gewöhnliche Menschen, denn wie alle anderen müssen wir als das gesehen werden, was wir sind, wir müssen respektiert werden, wir müssen geliebt werden.“

Den Artikel in englischer Originalsprache finden Sie auf der Internetseite von ENIL.

Siehe auch: Das Rad immer neu erfinden?

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich