Die Lügen der Wohlfahrtsverbände

Wer erst “Barrieren in den Köpfen” beseitigen will, betreibt die gleiche Augenwischerei wie Weiße, die nichts gegen ihren Rassismus tun wollen. Ein Kommentar.

Frau mit einem Merkzettel auf der Stirn: Barriere im Kopf
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Ich kann diese Plakate nicht mehr sehen. Sie lächeln mich auf der Straße an, von Litfaßsäulen herab grüßen Gesichter glückliche Erwachsene und noch glücklichere Kinder. Aufklärung soll das sein.

Fast alle Wohlfahrtsverbände in Deutschland argumentieren, man müsse sensibilisieren, für die Belange der Menschen mit Behinderung. Verständnis für sie wecken.

Letztendlich wollen sie darüber aufklären, dass Menschen mit Behinderung auch Menschen sind. Für diese Binse investieren sie Millionen von Euro in Werbekampagnen, und dann sind Deutschlands Straßen voll mit lächelnden Gesichtern – eindimensional auf Papier und damit in Parallelgesellschaften wie den isolierten Werkstätten und Wohnheimen eingerahmt, während nicht wenige Gebäude in der dreidimensionalen Welt dieser Straßen kaum barrierefrei sind, was eines der Probleme ist, um die wir uns zuallererst kümmern sollten.

Es ist zum Mäusemelken.

All diese Kampagnen und das Gerede über Inklusion verschieben ein wichtiges Problem auf den Sankt-Nimmerleinstag: elementare Rechte von Menschen mit Behinderung werden ignoriert.

Müssen wir etwa Männer dafür sensibilisieren, dass Frauen auch Menschen sind? Oder dass Nichtdeutsche auch Menschen sind? Hat sich ein einziger Nazi durch das Anschauen eines Plakats gedacht: „Stimmt, Ausländer sollte ich eigentlich nicht jagen …“?

Let’s meet

Was einen Rassisten vielleicht bekehrt, ist die Begegnung. Das schafft eine Chance. Wenn also Wohlfahrtsverbände lamentieren, man müsse erst einmal “die Barrieren in den Köpfen” der Gesellschaft abbauen, dann irren sie.

Erst einmal müssen die Schulen barrierefrei gemacht werden, die Straßen und die Verkehrsmittel – damit wir uns überhaupt begegnen können. Nur dann können wir uns um die Barrieren in den Köpfen kümmern.

Wohlfahrtsverbände aber lamentieren über den zweiten Schritt, um den ersten nicht machen zu müssen. Sie irren absichtlich – und damit lügen sie. Denn so bleibt alles, wie es war. Und das bedeutet: Keine Überlegenen ohne Unterlegene.

Der Forschungsbereich Critical Whiteness beschäftigt sich mit dem Weißsein als Norm, welche Privilegien mit sich bringt. Die Mehrheit schafft dadurch strukturierte Ungleichgewichte und eine Überlegenheitsposition von Weißen, über die sie wenig nachdenken. Wer nicht zu den Weißen gehört, muss sich dann stets mit dem Rassismus auseinandersetzen, ob er will oder nicht. Denn der ist da.

Letztlich werden People of Color in den Köpfen als fremd eingestuft. Damit schafft das Weißsein einen unsichtbaren Maßstab für das Leben in Deutschland. Und es werden haufenweise Klischees geschaffen, bewusste und unbewusste (Stichwort: „Stuttgarter Randale“), die gefährlicher sind als die offene Anfeindung eines „Ausländer raus“ brüllenden Nazis, weil man Journalisten oder Oberbürgermeistern eher glaubt. 

Diese Normen des Weißseins lassen sich auch nicht erfolgreich ausblenden, denn Aussagen wie “Ich sehe keine Hautfarben” oder “Für mich sind alle Menschen gleich” verwischen die Diffamierungserfahrungen, die Menschen machen und münden in Ignoranz. Daher hören wir nun allerorten, dass Weiße hinhören sollen, sich zurücknehmen sollen, Begegnungen zulassen sollen.

Ein Problem

Weiße leben in einer Gesellschaft, in der sie sich wohl fühlen können, denn sie sind stets repräsentiert, da drängt sich die Notwendigkeit einer Beschäftigung mit Rassismus nicht durch die Vordertür auf. Weist man sie dann auf rassistisches Verhalten hin, reagieren sie zuweilen pikiert bis ablehnend. Will man ja nicht hören.

Übrigens sehen Weiße sich natürlich als Individuen, während People of Color von ihnen als Mitglieder einer Gruppe wahrgenommen werden. Linke und Liberale schließlich sollten nicht so tun, als könnten sie nicht rassistisch sein – das macht sie nur weniger offen und verschärft das Problem.

Auf und zu einer Schublade

Was dieser Exkurs soll? Ich werde ihn nun in die Lebenserfahrungen übersetzen, die Menschen mit Behinderung machen.

Norm in Deutschland ist, dass man nicht behindert ist. Menschen ohne Behinderung schaffen ein strukturiertes Ungleichgewicht, in dem Menschen mit Behinderung als anders wahrgenommen werden. Menschen mit Behinderung müssen bangen und kämpfen, damit sie eine Schulbildung und eine Chance auf dem Arbeitsmarkt wie die „Anderen“ erhalten.

Sie müssen sich jeden Tag mit Diskriminierung auseinandersetzen: Wenn sie zum Beispiel irgendwo nicht weiterkommen, wenn man sie bevormundet oder über sie hinweg sieht. Immerhin blicken Menschen mit Behinderung auf eine lange Geschichte der Aussonderung zurück. Sie wurden früher weggesperrt und in der Nazizeit gar massenhaft ermordet, und heute leben und arbeiten sie oft isoliert in Sondereinrichtungen.

Dieser unsichtbare Maßstab hat Folgen. Denn wenn eine Behinderung als eine Abweichung wahrgenommen wird, setzt sich das medizinische Modell von Behinderung durch: Dann ist Behinderung ein Mangel, eine Krankheit. Dies aber stimmt meist nicht mit den eigenen Realitäten der Menschen überein, die mit ihrer Behinderung leben und sie als Teil ihrer Identität kennen.

Und auch wir haben unsere Journalist*innen und Oberbürgermeister*innen, die zu einer verfahrenen Situation beitragen: Werkstätten für behinderte Menschen genießen einen guten Ruf, obwohl sie in Wirklichkeit unterfordernde Sondereinrichtungen sind. Endlos sind die Tiraden in der Mehrheitsgesellschaft, die davon labert, wie „gut eingebunden“ man durch die Werkstatt in die Arbeitswelt sei.

Es ist auch falsch,  von einer „Farbblindheit“ zu sprechen und alles zu verwischen, weil ja jeder irgendwie eine Behinderung habe – denn so wird auf Diffamierungserfahrungen ein Deckel gestülpt, ein Diskurs unterbunden.

Vor allem Menschen, denen eine Behinderung fehlt, sind die, die über Menschen mit einer solchen reden. Sie beurteilen und legen fest. Daher gibt es nun den Appell, dass sie sich zurücknehmen sollten, zuhören sollten: Nichts über uns, ohne uns! Das geschieht nicht folgenlos.

Wer einen Menschen ohne Behinderung auf sein Fehlverhalten hinweist, etwa auf Bevormundung oder ungefragtes Berühren, hört zuweilen pikiert: „Ich wollte doch nur helfen“ – und man ist in der Ecke des undankbaren, griesgrämigen Krüppels. Von Linken und Liberalen können wir auch manches Lied singen. Da gibt es die Helikopter-Eltern, die stets alles besser wissen, oder Leute in Berufen, die mit behinderten Menschen arbeiten und sie als Objekte sehen, für die sie entscheiden. Das trifft natürlich nicht auf alle zu, aber auf einen Teil. Und der bildet sich zu einer Struktur aus.

Um all diesen Mist abzubauen, brauchen wir Begegnung und Protest um die Teilhabe behinderter Menschen zu ermöglichen. Aber bitte klebt keine weiteren Plakate!

Dieser Kommentar erschien zuerst im Blog von Raul Krauthausen.

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15 Kommentare

  • „Lieber ohne Euch über Euch.“ Das sagen unsere „Weißen“ zwar nicht offen, doch gehandelt wird erschreckend oft danach. Raul Krauthausen hat recht mit der Einschätzung, daß es erst mit regelmäßigen, tatsächlichen Begegnungen auf vielen Ebenen wirklich besser werden kann. Da müssen wir hin und das bald.

    Behinderte und deren Organisationen beteiligen, das würde in vielen Projekten bessere Lösungen zu vergleichbaren Kosten ermöglichen, zumindest, wenn man die frühzeitige Beteiligung hin bekäme. Oft wird allerdings eine möglichst frühzeitige „Präsentation des fertigen Ergebnisses“ als einzig mögliche Form der Beteiligung von Behinderten verstanden. Also frühestens bei der Einweihung, der Inbetriebnahme oder zumindest ein paar Wochen nach der Vorstellung für Presse und Politik. Man will die Behinderten ja nicht ausschließen. Mit anderen Worten: anschauen lassen dann, wenn Änderungen – so sie überhaupt machbar sind – nur noch mit viel Aufwand umgesetzt werden könnten. Wie unproduktiv, wie verschwenderisch, wie bevormundend.

    Und dann auch noch pikiert dreinschauen, wenn der Jubel der Behinderten angesichts des schwachen Resultats ausbleibt – oder gar Kritik kommt. Wer, der in Sachen Behinderten-Themen unterwegs ist, kennt das nicht aus eigener Anschauung?

  • Liebe Mitstreiter!
    Ich mache schon 20 Jahre darauf aufmerksam, was in unserem Lande mit M. m. B veranstaltet wird!
    Wenn ich wieder etwas von einem Symposion oder einer Konferenz zum Thema Behinderung höre, dreht es mir den Magen um, denn meistens sitzen die „Täter“ mit am Podium und geben sich als Experten, Fürsprecher und Gutmenschen aus, um dann wieder in das von ihnen geschaffene menschenverachtende System zurückzukehren!
    Welche Rolle spielt dabei die Politik, die diese misslungenen Systeme mit Geld füttern und anscheinend beaufsichtigen!
    Wenn man sich bei Missständen an die verantwortlichen Politiker wendet, sind auch diesen die Hände gebunden und sie verweisen einen wieder an die schon genannten Stellen, wie Behinderten- und Volksanwälte, denen so wie ihnen, auch die Hände gebunden sind!
    Wer fesselt hier wen?

  • Liebe kritische Kommentarschreiber!
    Meint ihr wirklich, dass unsere kritischen Kommentare etwas zur Veränderund der verheerenden Situation von M.m. B. in diesem Lande etwas beitragen?
    Wie wär`es, wenn wir Leidgeprüften uns endlich zusammenschließen, um den Politikern zu zeigen, was Menschenwürde und Menschenrechte ausmachen!
    Das müßte doch in einem demokratischen Rechtsstaat möglich sein!
    Wenn man z.b. die Tierschutzaktivisten beobachtet, so scheint, dass diese für ihre armen Viecherln schon mehr erreicht haben, als wir für uns selbst!!!
    Es ist zum tot schämen!
    Wer ist bereit, eine Plattform zu gründen, wo man sich mit seinem Anliegen hinwenden kann, denn wie man sieht, können auch Behinderten- und Volksanwälte nichts ausrichten, weil ihnen allen die Hände gebunden sind!!

  • Ich halte dies für einen der besten Artikel, die ich je auf Bizeps gelesen habe! diese Denkensart ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was derzeit in der Blindenwelt anzutreffen ist (von anderen Menschen mit Behinderungen und deren Anliegen weiß ich nicht ausreichend bescheid).
    zur Detailarbeit: aus Sich vollblinder Menschen halte ich u.A. 2 Probleme für virolent:
    1. der Grundsatz „nichts für uns ohne uns“, sofern er überhaupt gekannt wird, wird derart ins Gegenteil verkehrt, dass Planer von Leitlinien oder Mobilitätstrainer sich ernsthaft und maßgeblich anschicken, aktiv Behindertenpolitik zu machen, ein Bevormundung erster güte, die offenbar von den Leitern der Hilfsorganisationen, hier vor Allem jenem des BSVÖ, so gewollt wird (die Hilfsgemeinschaft verfügt grundsätzlich kaum über Knowhow über die Probleme und Anliegen vollblinder Menschen, sondern fokusiert sich ausschließlich auf Menschen mit Sehbehinderung). Dies mündet 1 zu 1 in Ampelanlagen, die bei grün rot zeigen, was die Vertreter der Verbände mit einem „des is jo wegen der Sicherheit“ quitieren, Prost Malzeit!
    2. Das Empfangen von Allmosen: Wer spendet denn schon gerne für Behinderte, die dann auch noch laut einschneidende Forderungen stellen? Da ist es doch leiwander, rührseelige Texte zu verfassen (man erinnere sich an die kleine Emma und ähnlichen diskriminierenden Schwachsinn). In diesen Texten muss in jüngster Zeit das Wort „inklusion“ nicht fehlen – das klingt doch super, genauso wie Bio: es steht überall drauf, und ist fast nirgends drinn, aber wen juckts? Faszinierend ist, dass es genau von jenen gern verwendet wird, die die grundsätzliche Definition von Barrierefreiheit nicht einmal zu kennen scheinen – aber egal, Tönnies hat sicher auch sein Fleisch mit „bio“ beworfen.

  • So sehr ich die Arbeit von Raul Krauthausen auch schätze, so enttäuschter bin ich, dass es anscheinend keine kritischen Selbstvertreter*innen aus Österreich gibt, die mal klar und deutlich die aktuellen Probleme bei uns ansprechen und zB auf BIZEPS öffentlich machen.

  • Liebe Bizepsfamilie!
    Man merkt an den außergewöhnlich zahlreichen Kommentaren, dass dieser Beitrag von Raul Krauthausen die Gemüter bewegt!
    Auch mich, als nächste Angehörige eines M. m. B. berührt dieser Beitrag sehr, da er treffender nicht sein könnte!
    Etwas passt für mich absolut nicht zusammen, nämlich: Das eine Behinderteninstitution wie die „Lebenshilfe“ die Kampagne „GEGEN BARRIEREN IM KOPF“ ins Leben ruft, diese Schlagwörter auf all ihren Briefköpfen abgebildet hat, gleichzeitig aber das Gedankengut, gegen das sie vermeintlich ankämpft, in ihren eigenen Reihen tagtäglich zur Umsetzung bringt, ungeachtet dessen, welch` großen Schaden sie an den M.m.B. u. deren Angehörigen anrichten!
    Man weiß oft wirklich nicht, wie sehr bewusst oder unbewusst zutiefst böse Handlungen gesetzt werden!
    Wie will sich die LH. um die Barrieren in den Köpfen kümmern, wenn sie gleichzeitig den Leuten verbietet, einander zu begegnen!!!!
    Begegnung bedeutet für die LH., wie für den Teufel das Kreuz!!!

  • Die Wohlfahrtsverbände sorgen sich hier so wie die österreichische Armutskonferenz in erster Linie um das Geschäft ihrer Mitglieder. Die Betroffenen selbst haben da wenig mitzureden und kriegen erst recht nichts von den Subventionen der an Land gezogenen Projekte. Die Betroffenen sind nur ein Feigenblatt bzw. Mittel des Marketings.

    Diese Erfahrung mußte der Verein „Aktive Arbeitslose Österreich“ schon vor Jahren machen und hofft dass sich endlich wirklich unabhängige und kritische Betroffenenselbstorganisationen aufbauen und zusammen arbeiten!

  • Wichtiger Beitrag und wichtige Diskussion. Danke für den Artikel.

  • Ein sehr gescheiter und durch und durch treffender Kommentar! Danke dafür!

    • Eine Frage zum Kommentar dieses Herrn Walerich Berger:
      Sind Sie nicht der Geschäftsführer einer Behinderteneinrichtung, wo es genau so zugeht, wie beschrieben?
      Fühlen Sie sich nicht verantwortlich für diese unmenschlichen Zustände?
      Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie persönlich diese zutiefst unmenschlichen Zustände durch menschenrechtswidrige Weisungen und unterdrückende Maßnahmen herbeiführen und einzementieren!
      Wie können Sie dann,als jemand,der an diesem menschenverachtenden System festhält und davon lebt, so einen Kommentar abgeben?
      Wie sind Ihre Worte zu deuten?

    • Ohne Herrn Walerich Berger zu kennen ist es ein generelles Problem, dass viele Behindertenvereine problematische Positionen vertreten.
      Ist dies nicht beim Blindenverband oder der Hilfsgemeinschaft ähnlich? Es wird zwar Selbstbestimmung propagiert, Spenden und Mitleid ist dann aber doch von höherer Bedeutung.
      Auch die Wiener Autistenhilfe bemüht problematische Klischees so hängt im Stiegenhaus ein Plakat mit der Aufschrift „Autisten auf Reisen“ in Verbindung mit einer Abbildung zweier Männer in Bobby-Cars, die in unterschiedliche Richtungen blicken. In Anbetracht, dass es sich bei Bobby-Cars um Kinderspielzeug handelt ist die Botschaft klar.

  • Ein Beitrag, der verdient, mehrmals gelesen zu werden.

  • Toller Beitrag!!!!

  • Super Artikel!

    Ich sehe das Problem nur schon früher: Dass es überhaupt „Rechte für Menschen mit Behinderungen“ braucht, verschiebt den behinderten Menschen vom Menschen zum behinderten Menschen. Wenn dann in versch. Bereichen diskriminiert wird, ist’s leicht mit Sagern wie „Ja, da müssma noch was tun“ – was meist gar nichs bewirkt.

    Richtig ist’s andersherum: Was muss ich tun, dass es zur Ungleichheit erst gar nicht kommt?

    Alles Anddere ist Schönwetter- und Politikquatsch.