Gewalt und sexueller Missbrauch an Menschen mit Behinderungen. Die Situation in St. Isidor und St. Pius

Die Caritas Oberösterreich hat Gewalt und Missbrauch in ihren Heimen aufgearbeitet. Neben dem Erziehungsheim Gleink wurde die Situation im Kinderdorf St. Isidor und in St. Pius, beides Heime für Menschen mit Behinderungen, untersucht.

Angela Wegscheider, Bischof Manfred Scheuer, Michael John, Marion Wisinger und Caritas OÖ-Direktor Franz Kehrer
Caritas Oberösterreich

Die Studie zeigt auf, welche strukturellen, institutionellen und personellen Voraussetzungen Gewalt und Missbrauch begünstigten bzw. die Kinder und Jugendlichen nicht davor schützen konnten.

Studienergebnisse dokumentieren Gewalt und Missbrauch

Mit Hilfe von Akten, Zeitungen, Statistiken, Protokollen und Interviews wurden in der Studie Organisation und Alltag in den Einrichtungen aufgearbeitet und ausgewählte Gewaltfälle dokumentiert.

Das Ausmaß und die Reichweite der Gewalt in St. Isidor und St. Pius war zwar der Studie zufolge geringer als in Gleink, dennoch passierte sie täglich.

Es gab physische Gewalt, die weit über eine „gesunde Ohrfeige“ hinausging, psychische Gewalt wie übermäßiges Schimpfen oder üble verbale Abwertung, sexuelle Übergriffe und Missbrauch durch Priester, Schwestern und Erzieher/innen und Gewalt unter den Kindern und Jugendlichen, die durch die Heimerziehung lernten, an Schwächeren Aggressionen auszuleben.

Über alle dies Vorfälle hatte und hat sich noch immer, ein Mantel des Schweigens gebreitet. Ein ehemaliges Heimkind von St. Isidor (1975-1987) erläuterte:

Die Kinder konnten sich nicht wehren. Wenn man sich bei den Eltern beschwerte und die Eltern mit der Kinderdorfmutter redeten, wurde alles abgestritten.

Außerdem waren nicht wenige von Assistenz- und Pflegeleistungen abhängig, die dann als Strafe nicht erbracht wurden. 90% der bei Opferschutzkommissionen dokumentierten Fälle sind dem Erziehungsheim Gleink zuzuschreiben.

Menschen mit Behinderungen wenden sich viel weniger an Opferschutzkommissionen, die registrierten Fallzahlen für St. Isidor und St. Pius entsprechen nicht der Wirklichkeit.

Harte Hand und Mutterliebe

Die Caritas Oberösterreich übergab die operative Leitung der Heime über lange Zeit an Ordensgemeinschaften, weil Ordensangehörige im Vergleich zu weltlichem Personal weniger Personalkosten verursachten und sich der Träger der Einhaltung und Umsetzung christlich-spiritueller Prinzipien sicher sein konnte.

In den Einrichtungen war aber neben Priestern und geistlichen Schwestern viel weltliches Erziehungspersonal tätig. Fachlich ausgebildete ErzieherInnen oder pädagogische Kontrolle im Behindertenbereich gab es bis Anfang der 1990er Jahre noch kaum. Die Situation in manchen Gruppen war durch den unprofessionellen Zugang dem Prinzip der „totalen Institution“ (Erving Goffman) ähnlich.

Die Analyse zeigt, dass in den Einrichtungen über lange Zeit Personen tätig waren,

  1. die für die pädagogische Arbeit nicht geeignet waren und niemals mit Kindern/Jugendlichen hätten arbeiten sollen,
  2. die überfordert waren und/oder
  3. die davon ausgingen, dass ihre (veralteten) Erziehungsmethoden richtig und notwendig waren.

Es gab viele Heimbewohner/innen, die litten an den engen Vorgaben des Anstaltslebens, die sich über viele Jahrzehnte kaum änderten. Noch in den 1980er Jahren dominierte der Zugang zu Erziehung von „Vater Direktor“ Georg Erber: „Man muss die Kinder züchtigen, damit aus ihnen etwas wird“. Auch in St. Pius herrschte bis in die 1990er Jahre „eine rigide Pädagogik, die unerträglich war. Eine Systempädagogik: menschenfeindlich, freiheitsfeindlich.“ (Leitender Angestellter Caritas)

Die Studie zeichnet dennoch ein differenziertes Bild. Verlassenen Kinder und Jugendlichen wurde die Möglichkeit zu „Familienanschluss“ durch ein Bezugsbetreuersystem geboten, auch wurden im Heim Talente und Neigungen gefördert.

Aber 2/3 der behinderten Kinder und Jugendlichen hatten eigentlich Eltern, sie wurden von ihren Eltern „freiwillig“ wegen Schulbildung und medizinisch-therapeutischer Versorgung im Heim untergebracht. Elternarbeit gab es noch kaum, auch war die versprochene Versorgung nicht immer gegeben.

Anfang der 1980er Jahre bemängelte eine Erzieherin, dass viele der in St. Pius untergebrachten Kinder keine medizinische Diagnose hätten, kaum Therapie oder spezifische medizinische Versorgung erhielten. Es fehlte das qualifizierte Personal. Auch mussten die im Heim untergebrachten Kinder zwangsweise die Sonderschule besuchen, auch dann, wenn der Bedarf nach heutigen Maßstäben nicht (mehr) bestand.

Gewalt seit 1945 – historisch aufgearbeitet

Titelbild der Studie: Verantwortung und Aufarbeitung
Caritas Oberösterreich

Seit 2016 hatten Michael John vom Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz, die Historikerin Marion Wisinger, Angela Wegscheider vom Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik der Johannes Kepler Universität Linz und die Leiterin des Bezirksgerichtes Döbling (Wien), Barbara Helige, an der Studie gearbeitet.

Am 25. Oktober 2019 wurde sie gemeinsam mit einer Gedenktafel im Linzer Ursulinenhof von Caritas OÖ-Direktor Franz Kehrer und Diözesanbischof Manfred Scheuer im Beisein der StudienautorInnen präsentiert.

Download der Studie: https://www.caritas-linz.at/aktuell/ueber-uns/geschichte/historische-aufarbeitung-zu-gewalt-in-einrichtungen-der-caritas-ooe/

 

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5 Kommentare

  • Ich hab im Kinderdorf St.Isidor Leonding so viel Schläge und Demütigung ertragen müssen. Mit 13Jahre schickte man mich ins Herzjesuskloster nach Wien.Dort ging der Horror weiter. Musste schwer körperlich Arbeiten,Monatsgehalt musste ich anSr.Adilia abgeben. Ich hatte nichts. Diese Klosterschwester war so böse zu mir. Psychische Verletzungen waren heftig werde ein Leben lan darunter leiden. Traumatisiert bin ich noch immer.
    Mit 19Jahre war ich nicht mehr dort gefangen gehalten.Mit sehr wenig Geld habe ich mir eine Wohnung gekauft bin weg. Wie kann jemand so böse sein.
    Hannelore Shady

  • Aktuelle Menschenrechtsverletzungenin Einrichtungen können und sollen bei der Volksanwaltschaft gemeldet werden, die über die sog. präventiven Menschenrechtskontrolle das Recht hat mit eigens dafür geschulten Kommissionen unangekündigt Einrichtungen zu kontrollieren.
    Die Aufarbeitung von Gealt und Missbrauch in Einrichtungenin der Vergangenheit ist wichtig und hilft – zumindest ein wenig – auch den damaligen Opfern, wenn sie – spät aber doch – erfahren, dass sie ernst genommen werden. Es ist zu hoffen, dass solche Berichte auch Opfer aus anderen Einrichtungen ermutigen, sich zu melden.

  • Mich verwundert, dass es zu diesem so wichtigen Thema nur 2 Kommentare gibt!
    Es sieht so aus, als hätten alle anderen bereits resigniert, da sich die Wirklichkeit für Behinderte trotz dieser Studien nicht ändert und keine Verbesserung in Sicht ist!!
    Was nützt es den Angehörigen, auf Missstände aufmerksam zu machen, wenn sie dafür lediglich bestraft und mit Rauswurf ihrer Kinder bedroht werden!
    So sieht die Problemlösung in Wirklichkeit aus!

  • Warum wird hier in der Vergangenheit gesprochen, wo diese Mißstände(fehlende pädagogische Kontrolle, kein Fachpersonal, keine adäquaten Therapien, fragwürdige Erziehungsmethoden, keine Zuasmmenarbeit mit Eltern u. Angehörigen, etc, etc.,….)
    noch allgegenwärtig sind!!!
    Die totale Institution lebt auch jetzt im Jahr 2019 !!!!
    Wem nützen also diese Studien, wo einem schlecht werden könnte, wenn man sie nur liest???!!!

  • Herzlichen Dank für den Artikel
    Ich hatte mit dem „Vater Direktor“ von St Isidor ein Zusammentreffen wo er fast körperlich Aggressiv wurde weil ich in einem Vortrag zum Thema Behinderung und Sexualität gehalten habe wo ich die Handhabung in kath Institutionen kritisiert habe