Herr Groll auf Reisen. 167. Folge. Salut in der Sky Bar

Als Groll die Sky Bar in der Kärntnerstraße als Treffpunkt vorschlug, war dem Dozenten bewußt, daß es sich um eine wichtige Sache handeln mußte.

Manfred Srb
Srb, Manfred

Eine Stunde später war der Dozent am vereinbarten Ort. Sein Freund wartete ungeduldig im letzten Stock des Steffl-Kaufhauses, vor dem Eingang zur Bar.

„Verehrter Dozent, Sie kommen spät.“

Der Dozent wollte sich rechtfertigen, aber Groll hatte den Rollstuhl schon gewendet und öffnete die Tür zur Behindertentoilette.

„Geschätzter Groll, das wollten Sie mir zeigen? Eine Behindertentoilette ohne Haltegriffe?“

„Der Fortschritt, den diese Toilette verkörpert, kann historisch nur gewürdigt werden, wenn man weiß, daß es vor einundzwanzig Jahren im weiten Umfeld des Stephansdoms überhaupt kein Rollstuhlklo gab“, erwiderte Groll. Der Dozent zog sein Notizbuch aus dem Jackett und nahm auf dem Klosett Platz. Groll fuhr fort, der Dozent schrieb mit:

„Als das Haas-Haus 1990 eröffnet wurde, stellte sich heraus, daß Architekt Hollein auf Behindertentoiletten vergessen hatte, und als es später, nach Protesten der Behindertenbewegung, im Kellergeschoß schließlich doch zur Einrichtung einer größeren Toilette kam, stellte sich heraus, daß diese als Abstellkammer zweckentfremdet wurde. Wiederum bedurfte es zorniger Proteste, bis das Haas-Haus endlich dem zivilisatorischen Standard genügte.

Sie sehen, verehrter Dozent, dieser kleine Raum, in dem wir uns befinden, stellt für Wien einen bedeutenden Progreß dar. In einer Zeitspanne von annähernd fünfundzwanzig Jahren erkämpften behinderte Menschen sich in einem Land, in dem ihresgleichen vor historisch kurzer Zeit ermordet wurden, grundlegende Menschenrechte, avancierten vom rechtlosen Objekt zum selbstbewußten Subjekt der Politik. Diese für Österreich erstaunliche Entwicklung ist mit einigen Aktivisten der ersten Stunde verbunden, ein personaler Nukleus aber war immer gegeben, zwei Personen waren aus der Szene nicht wegzudenken: Annemarie und Manfred Srb.

Sie war als langjährige Mitarbeiterin des ORF-Kundendienstes mit den Eigenheiten der Landsleute vertraut, er brachte als rollstuhlfahrender Sozialarbeiter seine langjährige Erfahrung mit einer übermächtigen und paternalistischen Sozialdemokratie ein, in der der Weg vom schulterklopfenden „laß dir einen Termin geben!“ bis zum „den querulantischen Krüppel net amol ignorieren“ oft nur einen Schritt auseinander war.

Konsequenterweise löste sich Manfred Srb von jener Partei, die vorgibt, das Los der Schwachen zu verbessern, behinderte Menschen aber bis heute ausgrenzt und demütigt – was am letzten Sparpaket und an dem Umstand, daß die SPÖ bis heute keine betroffenen Behindertensprecher hat, deutlich wird.

1986 lösten die Grünen in den versteinerten Verhältnissen eine Revolution aus. Manfred Srb war der erste Rollstuhlfahrer im Parlament, er war das Aushängeschild einer sich nach und nach formierenden Bewegung behinderter Menschen, die, befeuert von den Entwicklungen in den USA und Skandinavien, todesmutig gegen institutionelle Bevormundung und drohende Existenzvernichtung kämpfte und in allen Bereichen des Lebens Selbständigkeit und Expertenstatus in eigener Sache einforderten.

Es waren die Srbs und das BIZEPS-Team, die das amerikanische Ehepaar Bruckner, Veteranen der Independent Living Bewegung, immer wieder zu Vorträgen und Schulungen nach Österreich brachten, es waren die Srbs, die als masterminds hinter unzähligen Demos, Straßenblockaden, einem Hungerstreik (im Parlament), mehrfachen Besetzungen der Büros der Sozialminister und diversen anderen Akten des zivilen Widerstands wirkten.

Ohne Manfred Srb im Grünen Parlamentsklub lief in den Sturm- und Drangjahren der autonomen Behindertenbewegung nichts, er war die Fortsetzung der Bürgerrechtsbewegung in den parlamentarischen Prozeß, bei den heutigen BehindertensprecherInnen und -sprechern reicht es nicht einmal zum Gegenteil.

In Manfreds Srbs Büro summte es wie in einem Bienenstock, sein Büro war Anlaufstelle für erschütternde Schicksale, war Hilfsagentur, Trostraum und Ideenfabrik in einem – und immer war das Büro Srb eine Drehscheibe des politischen Kampfes.

In den acht Jahren der Ära Srb erzielte die Behindertenbewegung ihre größten Erfolge; das Pflegegeld wurde erstritten, es gab Fortschritte in der schulischen Integration, bei öffentlichen Verkehrsmitteln und der politischen Selbstvertretung behinderter Menschen.

Vieles von dem Erreichten ist mittlerweile wieder umkämpft, behinderte Menschen sind in der Defensive, im Stich gelassen von Parteien, Gewerkschaften, Medien und Organisationen wie Volkshilfe, Rotes Kreuz, Caritas und anderen, die nur ihre Verbandsinteressen im Sinn haben und zu erbitterten Gegnern der autonomen Behindertenbewegung mutierten.

Nach Manfreds Ausscheiden aus dem Nationalrat arbeiten die Srbs ab 1994 mit anderen betroffenen Menschen im Zentrum für Selbstbestimmtes Leben BIZEPS mit, sie leisten dort eine beharrliche und kenntnisreiche Arbeit und sind, was besonders wertvoll ist, mit demselben Feuer und derselben Empörung wie vor mehr als fünfundzwanzig Jahren am Werk.“

Groll holte aus dem Rollstuhlnetz zwei Plastikbecher und eine Flasche Champagner hervor, ließ den Korken knallen und stieß mit dem Dozenten an.

„Auf den Pionier der modernen Behindertenpolitik, Manfred Srb, der dieser Tage seinen siebzigsten Geburtstag feiert! Möge er noch viele Himmel stürmen!“ rief Groll und leerte den Becher in einem Zug. Der Dozent tat es ihm gleich. Als sie die Becher absetzten, war Freude in die Sky-Bar eingekehrt.

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