Herr Groll verteidigt das Sparpaket

Der Dozent traf Groll vor dem Sozialministerium an der Wiener Ringstraße. Groll saß hinter einem Campingtisch und vor einem selbstgemalten Transparent, das an eine Litfaßsäule geklebt war. (Der Text erschien im Monat 12/2010)

Taschenrechner, daneben Euros
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Auf dem Transparent war zu lesen: „Hoppauf, Herr Sozialminister! Nieder mit den Schwachen! Ich baue auf Ihnen!“ Auf einem zweiten Transparent war zu lesen: „Spenden Sie für den Sozialstaat! Kleinspender zahlen doppelt!“

Auf dem Tisch hatte Groll zwei kleine Fahnen, die österreichische und die europäische, befestigt. Die Flagge der EU wehte auf Halbmast, jene Österreichs lag am Boden. Auf einem kleinen Teller lagen ein Flaschenkork, zwei Büroklammern, drei Reißzwecken, ein Rex-Gummi sowie zwei Hosenknöpfe.

„Das nenne ich gelebte Integration“, sagte der Dozent lächelnd.

„Jeder gibt, was er noch hat“ erklärte Groll. „Das letzte Hemd, runderneuerte Kondome, gebrauchte Körperersatzstücke, Second-Hand-Katheter, defekte Herzschrittmacher, ausgebaute Bypässe, verkrustete Mullbinden, ausrangierte Brillen ohne Glas sowie Retro-Hörgeräte.“

Der Dozent trat näher und betrachtete den Inhalt des Tellers.

„Was ist ein Retro-Hörgerät?“

„Ein Hörrohr“ erwiderte Groll. „Es kann aber auch ein Abwasserrohr aus dem Baumarkt sein. Der Sozialstaat pfeift aus dem letzten Ministerium, wir haben ihn in Anspruch genommen, und jetzt ist der Gute marod. Soviel Anspruch hielt er nicht aus. Da dürfen wir jetzt nicht abseits sitzen und tatenlos seiner Verwesung zusehen, seine Sanierung ist unsere vornehmste Aufgabe. Die Verschlechterungen beim Pflegegeld, die Aussetzung des besonderen Kündigungsschutzes für behinderte Arbeitnehmer, die Verschiebung der Barrierefreiheit von Bundesgebäuden und Verkehrsmitteln auf 2020, die Streichung des Mobilitätszuschusses und der NOVA Rückvergütung beim Autokauf sprechen eine klare Sprache …“

„Die Regierung holt sich das Geld bei den Schwächsten, bei den Gruppen ohne Lobby“, unterbrach der Dozent.

„Grade umgekehrt!“ rief Groll. „Die uns auferlegten Prüfungen zeigen, daß wir auserwählt sind, bei der Sanierung des Budgets an vorderster Front rollen zu dürfen. Wir sind die Avantgarde der Sanierungsopfer!“

„Der Finanzstaatssekretär meinte neulich, es gehe bei dem Sparpaket ausschließlich darum, den Finanzmärkten einen, wie er es auszudrücken beliebte, „glaubwürdigen Konsolidierungspfad“, zu präsentieren“, warf der Dozent ein.

„Dann sind wir eben auch Konsolidierungspfadfinder“, entgegnete Groll. „Nach den einschneidenden Vermögens- und Erbschaftssteuerreformen sowie den neuen Grundverkehrsgesetzen, die von der SPÖ in einem heroischen Ringen erkämpft wurden und die für blanke Not unter den Achtzylinderfahrern und Villenbesitzern sorgen, müssen auch wir Bedienten unser Schorflein zur Wundversorgung des verunfallten Staatshaushalts beitragen, endlich dürfen auch wir behinderte Menschen mit dem Staat solidarisch sein! Wir geben ihm unsere ganze Zuwendung und er nimmt uns dafür die existentielle Sicherheit und tritt unsere menschliche Würde mit Füßen. Das ist doch ein fairer Kompromiß! Sozial ausgewogen bis ans Ende aller Waagen. Eine große, eine denkwürdige, eine hervorragende politische Leistung, die wir den zuständigen Herren und Damen von der Regierung nie vergessen werden.“ Groll wischte sich mit der Hand über die Augen und fügte mit tränenerstickter Stimme hinzu: „Manchmal frage ich mich, womit wir diese liebevolle Aufmerksamkeit verdient haben. Mir scheint, der Sozialstaat will uns mit seiner geballten Liebe förmlich erdrücken, seine ungestüme Umarmung kann nur mehr als fürsorgliche Belagerung bezeichnet werden. Daß ich das noch erleben darf.“

„Und der schwere grammatikalische Lapsus?“ fragte der Dozent ungerührt.

„Ach der!“ sagte Groll mit einem kleinen Lächeln. „Das ist nur ein Zugeständnis an das sozial ausgewogene Gewerkschaftsidiom.“

„Ja, die Hoffnung auf ein warmes Plätzchen am Gesindetisch der Mächtigen erwärmt selbst jene, bei denen schon lange keine Glut mehr brennt“, bemerkte der Dozent.“

„Als Millionärssproß sagt sich das leicht“, erwiderte Groll. Er jedenfalls lasse nichts über die neue große Zeit kommen, die behinderte Menschen einer finalen Inklusion nahebringe.

„Ihre Trommler sind aber nicht wie im Ersten Weltkrieg Generäle und Kirchenfürsten, sondern empathische Wohnbaustadträte, beflissene Diener der Finanzmärkte, nuschelnde Sprecher der radikalen Ausgewogenheit und gemütliche Minister der sozialen Herzensbildung“, warf der Dozent ein.

Er hätte es nicht besser sagen können, erwiderte Groll und warf einen rostigen Hunderternagel auf den Teller.

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