Kampagne für inklusive EU-Fonds geht weiter

Schwerpunkte waren auch die Fragen inwieweit in den EU-Mitgliedsländern die Europäischen Strukturfonds (ESF; EFRE und ELER) zum Erhalt oder Neubau von Institutionen genutzt werden, wie Roger Schmidtchen vom Verband für Inklusion und Teilhabe in Thüringen (VITT) berichtet.

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Während eines zweitägigen Workshops des Europäischen Netzwerkes für selbstbestimmtes Leben (European Network for independent Living – ENIL) präsentierten Vertreter*innen aus mehr als 15 europäischen Ländern die Zwischenergebnisse zum Stand der De-Institutionalisierung (DI) von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sowie dem Aufbau von Strukturen zum selbstbestimmten Leben in der Gemeinschaft in ihren Heimatländern.

Bericht von Roger Schmidtchen

Die Situation lässt sich so zusammenfassen, dass in denjenigen Ländern, in denen De-Institutionalisierungsprozesse gefördert und umgesetzt werden, diese leider nicht zu einem selbstbestimmten Leben der Menschen mit Behinderungen mit persönlichen Budget und persönlicher Assistenz führen.

Im Gegenteil ist es sehr beliebt, aus großen Heimen viele kleine Heime (group homes) mit 10 bis 12 Bewohner*innen zu machen. Angebote zum persönlichen Budget oder persönliche Assistenz sind nur in wenigen betroffenen Ländern überhaupt, wenn, dann nur ansatzweise, aber nicht bedarfs- und kostendeckend vorhanden. Als persönliche Assistenz werden häufig auch Angebote von privaten und kommunalen Dienstleistern angesehen, bei denen die Menschen mit Behinderungen aber faktisch kein Wahl- und Dispositionsrecht haben.

Die politisch verantwortlichen Personen in diesen Ländern feiern dies trotzdem als De-Institutionalisierung und preisen häufig diese Vorgehensweise untereinander als gute Beispiele an. Beispiele dafür bieten Länder wie Ungarn, Slowenien, Estland, Kroatien, Rumänien, Bulgarien, Litauen, Portugal und Griechenland.

Menschenrechts- und Selbstvertretungsorganisationen aus den betroffenen Ländern und ENIL kritisieren dieses Vorgehen und zeigen entsprechende Missbräuche auch bei der Europäischen Kommission an. Diese kann aber nur bei klaren Verstößen gegen Europäisches Recht dagegen intervenieren. Schwierigkeiten hat sie dabei, weil es keine rechtlich verbindliche Definition von De-Institutionalisierung gibt.

Die Kommentierung zu Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention des UN-Fachausschusses wird da rechtlich nur als unverbindlicher Hinweis gewertet. Außerdem sind die Kapazitäten der Europäischen Kommission bei der Überprüfung der Missstände begrenzt. Sie ist daher auf klare Hinweise und Belege der Selbstvertretungsorganisationen über Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtscharta und die Richtlinien zur Verwendung der Mittel aus den Strukturfonds angewiesen.

Besser scheint die Situation in der Tschechischen Republik und auch in Spanien zu sein. Hier soll es regional gute Beispiele für De-Institutionalisierung geben. Für Belgien, die Niederlande und Deutschland ist die Situation eine andere.

Diese Länder haben in ihren Partnerschaftsvereinbarungen mit der Europäischen Kommission und den Operationellen Programmen die Themen De-Institutionalisierung und Aufbau gemeinschaftsintegrierter Angebote trotz Angeboten der Europäischen Kommission ausgeklammert. Sie haben somit auch keine De-Institutionalisierungs-Programme, welche man überprüfen könnte.

In Belgien ist die Situation in den drei Regionen (Wallonien, Flandern und Limburg) unterschiedlich, aber insgesamt unbefriedigend. Es werden weiter mit Unterstützung der Regierung neue Institutionen gebaut und der Zugang zum persönlichen Budget und zu persönlicher Assistenz ist durch Haushaltsobergrenzen limitiert.

Auch in den Niederlanden ist ein Weg zurück zu Institutionen zu beobachten. Aufgrund von Kürzungen im Sozialbereich kehren viele Anbieter von Unterstützungsleistungen zur Konzentration auf Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen zurück.

Die Situation in Deutschland ist bekannt. Ein klares Bekenntnis und eine Strategie der Bundesregierung und der meisten Bundesländer zur De-Institutionalisierung fehlen, man hält sich an der zumeist hohlen Garantie eines Wunsch- und Wahlrechts fest.

Die Möglichkeit der Wahl für ein selbstbestimmtes Leben mit Hilfe eines persönlichen Budgets und persönlicher Assistenz ist theoretisch in ganz Deutschland gegeben. Aber praktisch hängt es weiter davon ab, in welchem Bundesland oder in welchem Landkreis bzw. welcher kreisfreien Stadt Betroffene leben, ob aus der Wahlmöglichkeit auch eine echte Wahl wird.

ENIL wird die Kampagne „EU Fonds für unsere Rechte“ weiterführen. Die Diskussion mit den Vertreter*innen der Europäischen Kommission im Abschlussteil des Workshops macht Hoffnung, dass die Europäische Kommission das Problem erkannt hat, aber noch nach den rechtlichen und programmatischen Lösungen für die Zukunft sucht, damit Wohngruppen von 10 Menschen mit Behinderungen nicht weiter als Lösung für selbstbestimmtes Leben in Europa angesehen und gefördert werden dürfen.

Alle Selbstvertreter*innen sind aufgefordert, ihre Europaabgeordneten auf dieses Thema hinzuweisen, die zuständigen Ministerien in den Bundesländern und im Bund aufzufordern, Strategien und Maßnahmen zur De-Institutionalisierung mit ihnen gemeinsam zu erarbeiten und die nächste EU-Förderperiode zu nutzen, diesen Prozess auch in Deutschland zu fördern.

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Ein Kommentar

  • Ich würde sagen, Österreich reiht sich in die Reihe der Länder Ungarn, Slowenien, Estland, Kroatien, Rumänien, Bulgarien, Litauen, Portugal und Griechenland ein, was die sog. De-Institutionalisierung im Rahmen der UN-BRK angeht. Ich finde auch, es gehört eine Präzisierung des Begriffs De-Institutionalisierung im Sinne von einem wirklich selbstbestimmten Leben mit Wahlfreiheit her und nicht, dass einem im Bedarfsfall eine voll- oder teilbetreute Wohngruppe als die individuellste Wohnform „verkauft wird“. Persönliches Budget für Persönliche Assistenz und/oder andere Unterstützungsangebote (u.a. ein Platz in einer WG) und die EU sowie die Mitgliedsländer sind in meinen Augen am richtigen Weg.