Kampf gegen Benachteiligung in Deutschland: Vor 26 Jahren und heute

Im Kampf gegen Benachteiligungen behinderter Menschen in Deutschland markiert der 30. Juni 1994 ein wichtiges Datum.

Deutscher Bundestag in Berlin
Deutscher Bundestag / Hermann J. Müller

Damals waren hunderte behinderte Menschen zum Berliner Reichstag gekommen, um den Bundestagsbeschluss für die Aufnahme des Benachteiligungsverbots im Grundgesetz zu verfolgen, für den sie so hart gekämpft hatten.

Dass aber auch heute noch für die Umsetzung des Satzes „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ gekämpft werden muss, zeigt die heutige Aktion am Brandenburger Tor gegen geplante Einschränkungen der Selbstbestimmung im Intensivpflegegesetz, das am Donnerstag im Bundestag zur Verabschiedung auf der Tagesordnung steht, meint Ottmar Miles-Paul in seinem kobinet-Kommentar.

Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

Es war damals ein ganz wichtiger Tag und für die Behindertenbewegung in Deutschland sollte es ein Meilenstein ihrer Geschichte werden. Am 30. Juni 1994 hat der Deutsche Bundestag in seiner Sitzung im Reichstag in Berlin im Rahmen der Verfassungsreform nach der Wiedervereinigung Deutschlands auch die Aufnahme des Satzes „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes beschlossen.

Dass dies nicht vom Himmel gefallen bzw. selbstverständlich war, zeigte sich daran, dass damals Hunderte von behinderten Menschen aus verschiedenen Regionen Deutschlands zum Reichstag nach Berlin gekommen waren, um die Debatte zu verfolgen und den Erfolg anschließend im nahegelegenen Haus der Kulturen der Welt mit Mitstreiter*innen und Unterstützer*innen zu feiern.

Mehr als vier Jahre lang hatte die Behindertenbewegung mit Tagungen, dem extra ins Leben gerufenen Europaweiten Protesttag für die Gleichstellung behinderter Menschen, mit einer Unterschriftensammlung für den Düsseldorfer Appell und tausenden von Diskussionen und Gesprächen für die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes für behinderte Menschen und ein Antidiskriminierungsgesetz gestritten.

Sah es bei den Anhörungen zur Verfassungsreform noch sehr schwierig aus, weil sich die damalige Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP vehement gegen die Aufnahme des Benachteiligungsverbots für behinderte Menschen im Grundgesetz aussprach, gelang im Wahlkampfjahr 1994 kurz vor der entscheidenden Bundestagssitzung Anfang Mai die Wende.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hatte wohl erkannt, dass es seiner Wiederwahl dienlicher sein könnte, den Forderungen behinderter Menschen und ihrer Verbände nachzugeben und verkündete bei einer Konferenz des Sozialverbands VdK plötzlich seine Unterstützung für dieses Anliegen. Danach war es dann nur noch Formsache, denn ein Kanzlerwort galt damals viel.

So war das damals. Und langsam aber sicher sollte sich in den folgenden Jahren zeigen, dass mit der Aufnahme des Satzes „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ zwar nicht die Weltrevolution gelungen war und sich der Alltag behinderter Menschen nicht plötzlich golden gestaltete, aber eine wichtige Grundlage für weitere Gesetzgebungsverfahren zur Gleichstellung und letztendlich auch richtungsweisender Urteile geschaffen wurde.

Der Wahlrechtsausschluss behinderter Menschen, die in allen Bereichen gesetzliche Betreuung nutzen, wurde beispielsweise mit Hilfe des Bezugs auf das Benachteiligungsverbot im Grundgesetz vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Trotzdem stoßen wir heute noch an allen Ecken und Enden auf Barrieren und behinderte Menschen müssen so manche Diskriminierungen erleben.

Und heute stehen wieder behinderte Menschen auf der Straße. Dieses Mal nur in der Nähe des Reichstages. Ihnen ist allerdings ganz und gar nicht zum Feiern zumute, wenn sie heute von 12:00 bis 18:00 mit einer Verhüllungsaktion am Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor gegen Einschränkungen ihrer Selbstbestimmung durch das geplante Intensivpflegegesetz protestieren, das am Donnerstag wahrscheinlich vom Bundestag verabschiedet wird.

Wenn hier nicht noch entscheidende Veränderungen vorgenommen werden, würden diese Regelungen u.a. dazu beitragen, dass behinderte Menschen, die Intensivbeatmung nutzen, hart darum kämpfen müssen, ihre Hilfen zukünftig Zuhause und nicht in einer Einrichtung zu bekommen. Der Grundsatz ambulant vor stationär würde damit erheblich eingeschränkt – ein Rückfall in finstere Zeiten der Behindertenpolitik wäre dies. Und das hätte gar nichts mit dem bereits erwähnten vor 26 Jahren vom Bundestag beschlossenen Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ zu tun.

Der Bundestagsbeschluss für das Benachteiligungsverbot behinderter Menschen vor 26 Jahren scheint bei vielen Abgeordneten derzeit also aus dem Blick geraten zu sein, genauso wie die von Deutschland ratifizierten Regelungen der UN-Behindertenrechtskonvention mit dem Recht auf ein Leben in der Gemeinde mit entsprechender Unterstützung.

So kann man den Aktiven, die sich heute am Brandenburger Tor trotz höherer Risiken im Falle einer Infektion mit dem Coronavirus versammeln, höchsten Respekt zollen und jegliche Unterstützung senden. Denn sie kämpfen dort nicht nur gegen Einschränkungen der Selbstbestimmung von einigen, sondern für die Achtung und Umsetzung des Grundgesetzes, das für sehr viele gerade in dieser Zeit eine wichtige und gute Leitlinie für unser Zusammenleben bietet.

Danke an all diejenigen, die heute am Pariser Platz in Berlin sind und für die Rechte von uns allen kämpfen. Und danke an diejenigen Abgeordneten, die sich dem geplanten Unsinn der Einschränkung der Selbstbestimmung beatmeter Menschen entgegenstellen.

Link zum Bericht über die heute geplante Aktion am Brandenburger Tor gegen die derzeitige Fassung des Intensivpflegegesetzes von 12:00 bis 18:00 Uhr

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Ein Kommentar

  • Ich bin zwar aus Österreich, aber ich hoffe trotzdem, dass dieses menschenrechtswidrige Vorhaben NICHT durchgeht!!!