OTTO STÄNKERER: Pflegegeld – Sei solidarisch, Renate!

Gastkommentar von Dr. Strouhal im Standard vom 3.12.93 (gekürzt)

Otto Stänkerer - Kürbis der böse schaut
BIZEPS

Das pompös als Meilenstein der Nächstenliebe und Solidarität gefeierte Pflegegeldgesetz ist in Wahrheit blanker sozialpolitischer Zynismus. Superlativen politischer Rhetorik wurden bemüht:

Ein Jahrhundertgesetz, ein Quantensprung in der Sozialpolitik, hieß es. Acht Milliarden koste das neue Gesetz zum Pflegegeld, eine sozialpolitische Pioniertat in rauhen Zeiten. Oder kostet es nur vier oder gar zehn Milliarden oder gar nicht? Wer weiß das schon, Sozialpolitik ist eine Politik der großen Zahlen.

Von den 232.726 Fällen der Sozialversicherung bis Oktober automatisch in Stufe 2 der Skala eingestuft. Sie erhalten S 3500 Pflegegeld pro Monat. Das sind 86 Prozent, der Rest ist quantitativ zunächst marginal. Immerhin: S 3500 sind zwar wenig, aber auch nicht nichts.

Renate erhielt bereits S 3000 pro Monat. Also eine Erhöhung wenigstens um rund S 500? Leider nein.

Das neue Pflegegeld wird nur 12 mal jährlich ausbezahlt, der alte Hilflosenzuschuß wurde 14 mal jährlich gewährt: 14 mal S 3000 ergibt S 42.000 pro Jahr. 12 mal 3500 (Pflegegeld) ergibt S 42.000 pro Jahr. Eine seltsame Übereinstimmung.

Was der Bund jedoch an Mehrkosten gibt, darauf blicken die Länder, im Monopolbesitz der Infrastrukturen (Heime, Soziale Dienste etc.) begehrlich. Schon basteln die Länder an neuen Tarifstrukturen, um den neuen Zuschuß des Bundes zugunsten chronisch maroder Sozialbudgets abzuschöpfen.

Die Zahlung soll in der Hauptsache vom Bund zum Land erfolgen und nicht von Renate zur Wirklichkeit. Der freie Pflegemarkt für Behinderte ist eine Illusion. Gebessert habe sich die „psychologische Situation“, weil die Behinderten jetzt wissen, wieviel sie vom Bund bekommen. Bevor es das Land einbehält. Was für ein Zynismus!

Renate kann gegen eine zu geringe Einstufung Klage vor Gericht erheben. Berufen kann man freilich nach Widerständen des Justizministeriums erst ab 1997(!). Die Begründung ist skurril: Es gebe zu wenig Richter, die Akten würden liegenbleiben. Sei solidarisch mit unserer überlasteten Justiz, Renate! Ob dann die Behinderung „außerordentlich“ ist, ob tatsächlich 75 statt 50 Stunden Betreuung braucht, wird sich nach den Budgetmöglichkeiten der Sozialversicherungen richten.

Wozu das alles, könnte man fragen? Vielleicht damit ein politischer Buchhalter für die nächsten Jahre ein Hakerl beim lästigen Kapitel Behinderte machen kann. Alle haben um dich gekämpft, Renate. Wie die Löwen. Vielleicht hat aber aktuelle Sozialpolitik für einen Moment lang ihr Gesicht gezeigt: Als Nullsummen-Spiel zwischen Ministerien, zwischen Land und Bund im Streit um Millimeter.

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