Rückschau: Im Nachhinein ist man klüger

In den letzten Wochen habe ich oft über den Spruch: "Im Nachhinein ist man klüger" nachgedacht.

spielendes Kind am Spielplatz
Pisecky, Jutta

Dass es so ist, kann ich gerne bestätigen. Ich möchte das anhand einiger Beispiele aus dem Leben meines Sohnes, der gehörlos geboren wurde und CI-Träger ist, untermauern.

Die richtige Diagnose „Auditive Neuropathie“ wurde uns erst gestellt, als Lukas bereits fast drei Jahre alt war. Bis dahin war nie klar, ob Lukas schwerhörig ist oder nicht. Ich konnte mit der damaligen Situation nicht gut umgehen, habe ich doch eine ältere Tochter, die hörend ist. Wie ein hörendes Kind sich entwickelt, wusste ich. Bei Lukas war alles ganz anders.

Ich selbst bin von Geburt an hochgradig schwerhörig. Bereits als Lukas ca. 8 Monate alt war, hatte ich das Gefühl, dass er nicht gut hört. Begründen konnte ich es damals noch nicht. Meine Mutter, die in meiner Kindheit ähnliches mit mir erlebt haben muss, konnte ich dazu nicht mehr befragen. Sie starb, als ich 15 Jahre alt war. Also war ich in dieser Hinsicht auf mich selbst gestellt.

Jetzt, fast 11 Jahre später, erinnere ich mich an Situationen, wo ich mir heute sage: „Ja klar! Logisch, dass Lukas so reagiert hat. Er hat ja nichts gehört.“ Aber in der damaligen Situation war es für mich einfach nicht nachvollziehbar. Hier ein Beispiel:

Lukas saß in der Babyschaukel. Die meisten Kinder lieben das Schaukeln, mal wild, mal sanft. Das Gefühl des Luftzugs zu spüren ist oft herrlich! Bei Lukas war das anders. Sobald ich ihn nur ein bisschen angeschubst hatte, fing er an zu weinen. Ich stand hinter ihm und rief: „Lukas! Ich bin eh da!“

Da stellte ich mich vor ihn und tauchte ihn von vorne an. Da fing er richtig zum Brüllen an. Ich verstand einfach nicht, was los war. Ich bin ja da! Er sieht mich doch ohnehin! Also stoppte ich ab und wollte ihn rausholen. DAS war ihm allerdings auch nicht recht. Andere Kinder wollten auch schaukeln.

Daher versuchte ich, ihm zu erklären, dass er – wenn er nicht schaukeln will – raus muss, damit die anderen Kinder auch schaukeln können. Da er sich weigerte, von der Schaukel zu gehen, fing ich wieder an, ihn zu schaukeln – mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor. Also schnappte ich ihn und holte ihn raus. Lukas tobte.

Erst Jahre später, als mir diese Situation wieder einfiel, dachte ich darüber nach: Lukas hörte zu diesem Zeitpunkt NICHTS. Mein Zuruf von hinten war also zwecklos. Da ich ja unbewusst nach vor gegangen bin, damit er mich sehen kann, wäre dieses Problem schon gelöst gewesen. Trotzdem wollte er nicht schaukeln. Was war der Grund? Ich versetzte mich in seine Situation.

Da ich selbst die Diagnose „an einer Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit“ habe, brauche ich mir nur vorzustellen, wie es ohne Hörgeräte auf der Schaukel ist. Ich versetzte mich in Lukas’ Lage: ich weiß noch nicht viel von dieser Welt, schon gar nicht, wie es sich mit dem Schaukeln verhält.

Dann stellte ich mir vor, dass ich plötzlich, wie von Geisterhand, bewegt werde. Alles wackelt. Ich höre nichts, die ganze Welt scheint einzustürzen. Da bekomme ich Angst! Lukas hatte regelrecht Angst, weil er die Orientierung komplett verloren hat. Die visuell stabile Welt stürzt ein. Meine Stimme hört er nicht und mich sieht er auch wackeln. Dies war zuviel. Jetzt sage ich: „Vollkommen klar!“

Übrigens: anhand beiliegendem Foto können Sie erkennen, wie sehr Lukas inzwischen das Schaukeln liebt!

Eine andere Situation, die mir lebhaft in Erinnerung geblieben ist, war das Mittagsschläfchen. Lukas hat von Haus aus wenig geschlafen. Wenn er aber zu Mittag geschlafen hat, dann stundenlang. Einmal hatte Lukas schon zweieinhalb Stunden geschlafen. Da dachte ich: „Nimm den Staubsauger und beginne im Zimmer zu saugen. Dann wird er schon munter.“

Ein Staubsauger ist ja nicht gerade leise. Ich schaltete den Staubsauger ein, mit Blick auf Lukas. Er schlief weiter. Ich ging ins Zimmer, immer näher zum Bett. Lukas schlief weiter. Schließlich saugte ich UNTER SEINEM BETT, Lukas schlief weiter. Damals hat mich das zwar stutzig gemacht, aber ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Ich weckte ihn dann, damit er am Abend wieder schlafen konnte. Heute sage ich: „Vollkommen logisch – er hat ja nicht gehört.“

So gab es noch einige Situationen wie Zurufe, er solle stehen bleiben (da hat ihn seine Schwester z.B. festgehalten und er hat dann gebrüllt) oder gutes Zureden („wir sind ja schon bald zu Hause, dann kannst du spielen“ – da hat er auf stur geschaltet und sich mitten auf der Straße auf den Boden geworfen, weil er getragen werden wollte anstatt selbst zu gehen). Heute weiß ich: das war alles zwecklos! In den damaligen Situationen aber war ich echt verzweifelt. Da musste ich viel Geduld aufbringen.

Warum ich das alles schreibe? Ich möchte hier allen Müttern, Vätern, Großeltern und anderen Personen, die mit kleinen schwerhörigen Kindern zu tun haben, Mut machen. Es ist normal, dass man sich in der Situation hilflos fühlt. Wenn man den Grund nicht kennt, woher soll man wissen, dass alle Bemühungen sinnlos sind? Im Nachhinein weiß man einfach besser, was gut war – weil man mehr weiß.

Manchmal gab es auch einige weniger schöne Situationen, wo ich immer wieder nachträglich ein schlechtes Gewissen hatte, dass ich so reagiert habe. Ich weiß, dass dies nichts bringt und ich bin inzwischen dazu übergegangen, meine damaligen Reaktionen zu akzeptieren. Ich weiß, dass ich damals versucht habe, das Beste aus der Situation zu machen. Ich war stets bemüht, eine gute Mutter zu sein. Wie so viele andere Mütter auch wollte ich Lukas einen guten Start ins Leben ermöglichen. Und das habe ich letztlich auch geschafft.

Ich denke, sobald man weiß, WARUM die eine oder andere Situation so war, wie sie war, ist es auch leichter, in Zukunft die Situation besser zu bewältigen. Darum halte ich es für sehr sinnvoll, auch gelegentlich eine Rückschau zu halten. In diesem Sinne wünsche ich allen Eltern und Bezugspersonen weiterhin den Mut, die Kraft und den Willen, das Beste aus der Situation zu machen!

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