Was darf Würde kosten?

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Das sagt die UN-Erklärung der allgemeinen Menschenrechte. Wir sind heute hier zusammengekommen, um deren 75. Geburtstag zu feiern. Doch was ist Würde?

Marlies Neumüller
BIZEPS

Würde heißt, eine Person als Individuum zu begreifen.

Würde heißt, einer Person das Recht und die Mittel zuzugestehen, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.

Würde heißt, gleiche Rechte zu haben. Uns Menschen mit Behinderungen, wird diese Würde oft abgesprochen.

Menschen mit Behinderungen wird die Würde abgesprochen, wenn sie wegen fehlender anderer Unterstützung dazu gezwungen werden, in betreuten Wohngemeinschaften zu leben. Mit Leuten, die sie sich nicht ausgesucht haben. Dabei geht es nicht um ein Jahr oder zwei, sondern um ein ganzes Erwachsenenleben.

Menschen mit Behinderung wird die Würde abgesprochen, wenn sie ungefragt immer wieder das gleiche trockene Brot zum Frühstück bekommen, weil keine Zeit für anderes ist.

Menschen mit Behinderungen wird die Würde abgesprochen, wenn sie im Rollstuhl schlafen müssen, weil kein Personal da ist, das sie ins Bett bringt.

Menschen mit Behinderungen wird die Würde abgesprochen, wenn sie Windeln tragen müssen, nicht, weil sie inkontinent sind, sondern weil niemand da ist, der sie am Klo unterstützt.

Die Stadt Wien könnte Menschen mit Behinderungen diese Würde geben – indem sie zum Beispiel bedarfsgerechte Persönliche Assistenz finanziert, sodass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt leben können.

Aber Würde kostet. Und für die Stadt Wien kostet sie offenbar zu viel. Rund 20 Millionen gibt die Stadt Wien für Persönliche Assistenz aus. Das ist weniger als das Inseratenbudget von 2022. Das war der Stadt Wien insgesamt 25,3 Millionen wert.

Bei Persönlicher Assistenz wählen der Mensch mit Behinderungen selbst aus, dessen, wer für sie wann wo und wie welche Unterstützung erbringt. In der eigenen Wohnung, am Arbeitsplatz, in der Freizeit.

Für uns Menschen mit Behinderungen, die wir auf Persönliche Assistenz angewiesen sind, heißt das: Für eine Stunde persönliche Assistenz haben wir 20 Euro zur Verfügung, inklusive aller Lohnnebenkosten und Dienstgeberkosten.

Um mit diesem Stundensatz wenigstens noch auf die Toilette zu kommen, müssen wir unsere Persönlichen Assistent:innen häufig in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigen, ohne bezahlten Krankenstand und Urlaub.

Die Stadt Wien verlangt also von uns zu wählen: zwischen unserer eigenen Würde keine Windeln zu tragen und der Würde der Persönlichen Assistent:innen, welche das Recht auf sozial abgesicherte Arbeitsverhältnisse einschließt.

Doch bei Würde gibt es keine Wahl. Würde ist unteilbar. Jeder Mensch ist mit Würde geboren, heißt es in der UN-Menschenrechtskonvention.

Würde darf mehr kosten als ein Werbebudget.

Ich fordere Würde für Menschen mit Behinderungen und ihre Persönlichen Assistentinnen und Assistenten durch bedarfsgerechte finanzierte und fair bezahlte Persönliche Assistenz.

UPDATE (21.9.2023): Flugblattaktion im Wiener Gemeinderat am 20.9.2023

Aktion von der Galerie des Wiener Gemeinderatssaals für Persönliche Assistenz am 20. September 2023
Nikolaus Kunrath

„Die Protest-Initiatorin und grüne Behindertenreferentin Marlies Neumüller kritisiert die derzeitige Situation: ‚Damit wir aufs Klo kommen, müssen wir auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse ausweichen, denn eine Anstellung würde viel mehr kosten‘“, so ORF-Wien; auch FM4 hatte von der Protestaktion berichtet.

75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Diese Rede wurde am 19. September 2023 im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der GRÜNEN beim Speakers Corner im Wiener Rathauspark gehalten. Eingeladen hatte der Wiener Landtagsabgeordnete Nikolaus Kunrath und die Landtagsabgeordnete Berivan Aslan.

Niki Kunrath (GRÜNE)
Nikolaus Kunrath (GRÜNE)
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5 Kommentare

  • Ich kann die Intension sehr gut verstehen, vor allem aus Betroffenensicht. Dennoch finde ich es aus arbeitsrechtlicher Sicht unverantwortlich, eine anderes Dienstverhältnis anzubieten, als ein Angestelltenverhältnis. Alles andere ist purer Egoismus und hat nichts mit Fairness zu tun. Und hier muss nun mal auch klar sein, dass es sich nicht um das eigene Geld handelt, sondern um das Geld der Allgemeinheit. Wir – die Betroffenen – haben da mit allerhöchstens Verantwortung damit umzugehen.

    Somit braucht es – nebst stabiler und bedarfsgerechter Finanzierung – auch die Befähigung diese Verantwortung tragen zu wollen und zu können seitens der Betroffenen. Es geht nämlich auch um die Würde der Persönlichen Assistenz, die diese körperliche und psychische Arbeit leistet, ihr/ihm finanzielle Sicherheit zu bieten.

  • Behinderte haben bei uns schon ein würdevolles Leben. Meine behinderte Freundin sagt jeden Tag, was sie nicht alles gern tun würde.

  • die Rede bringt es auf den Punkt. die Stadt Wien sitzt die Situation seit Jahren aus und für uns wird es immer schwieriger ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen.

  • Ich finde nicht das dieser Artikel so stimmt

    • Wieso sollte dies nicht stimmen?

      Österreich hat die UN-Konvention ratifiziert und hat sich verpflichtet, Menschen mit Behinderungen ein würdevolles, selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen bzw sogar zu fördern. Das derzeitige Finanzierungproblem in der der Bund und die Länder sich gegenseitig die Verantwortung wegschieben, verhindert die klar notwendige Weiterentwicklung & bedarfsgerechte Finanzierung der Persönlichen Assistenz.