Wenn es keine einfache Lösung gibt …

Gedanken zur Diskussion um Gender-Zeichen und Barrierefreiheit. Ein Kommentar.

Vielfalt mit vielen bunten Bällen
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Die Diskussion um gendergerechtes Schreiben fokussiert zur Zeit fast ausschließlich auf die Frage, welches der drei Zeichen – Gender_Gap, Gender*Stern oder Gender:Doppelpunkt – verwendet werden soll. In der LGBTQI+-Community gibt es dazu keinen einheitlichen Standpunkt.

Teilweise wird darauf hingewiesen, dass Gender_Gap und Gender*Stern Symbole sind, die aus der eigenen Gruppe kommen, während der Gender:Doppelpunkt quasi eine Erfindung von außen ist.

Ein wesentlicher Aspekt der Diskussion um die Genderzeichen ist die Frage, welches von ihnen barrierefrei ist. Im Blick (oder besser im Ohr) hat man hier vor allem blinde Personen, die Sprachausgabeprogramme nutzen. Diese Programme lesen das jeweilige Zeichen teilweise vor, was – insbesondere bei häufiger Verwendung – eine deutliche Beeinträchtigung des Leseflusses darstellen kann.

Die erfreuliche Seite dieser breit geführten Diskussion ist, dass sie zeigt, dass das Bewusstsein für die Bedeutung digitaler Barrierefreiheit stark gewachsen ist. Gleichzeitig beobachte ich in diesen Diskussionen den Druck, dass eines der Zeichen von Betroffenen als barrierefrei definiert werden MUSS.

Das führt zu endlosen Verhandlungen über Einstellungsmöglichkeiten von Sprachprogrammen

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) hat in einer Stellungnahme die Problematik der Genderzeichen für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung klar aufgezeigt und gleichzeitig dabei eine Verwendung des Gender*Sterns empfohlen, wofür er teilweise heftig kritisiert wurde.

Die deutsche Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit in der Informationstechnik (BFIT-Bund) verkürzt diese Darstellung und gibt eine Empfehlung für den Gender*Stern als barrierefreie Lösung ab, wobei auf eine Studie Bezug genommen wird, die ebenfalls auf deutliche Kritik stößt.

Die Einengung der Diskussion auf Sprachausgabesysteme für Menschen mit Blindheit ignoriert die große Mehrheit aller lesenden Menschen, für die Sonderzeichen in einem Text eine Barriere darstellen können: Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung, die Texte stark vergrößern müssen, Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche und Menschen mit Konzentrationsstörungen, Menschen, die auf leichte Sprache angewiesen sind und möglicherweise noch einige mehr, die auch mir aktuell noch nicht bewusst sind.

Wenn man die Bedarfe aller dieser Gruppen ernst nimmt, wird schnell klar, dass eine Standardisierung, wie die WCAG-Richtlinien für Barrierefreiheit im Web sie anstreben, hier an ihre Grenzen stößt.

Hinzu kommt noch, dass die Darstellung der einzelnen Zeichen je nach verwendeter Hilfstechnologie variiert. Denn anders als vom BVIT-Bund behauptet, erfüllt der Gender*Stern und auch keines der anderen Genderzeichen das WCAG-Kriterium der Robustheit, nämlich unabhängig von verwendeter Soft- und Hardware gleich gut (oder in diesem Fall gleich nicht) wahrnehmbar zu sein.

Tatsache ist also, dass – egal welches Genderzeichen bevorzugt wird – es immer eine größere Anzahl von lesenden Menschen geben wird, für die es eine Barriere darstellt.

Für alle, die sich ernsthaft mit Vielfalt auseinandersetzen, sollte dies keine allzu große Überraschung sein, denn:

  1. Menschen mit Behinderung bzw. Beeinträchtigung sind genauso wenig eine homogene Gruppe, wie es LGBTQI+-Menschen sind.
  2. Wer Vielfalt ernst nimmt, darf keine Einheitslösungen erwarten.

Was kann die Lösung sein?

Keinesfalls der Druck auf Betroffene, etwas als barrierefrei auszugeben, das nicht barrierefrei ist. Und ebenso müssen wir deutlich gegen eine Methode auftreten, die auch in anderen Bereichen gern angewandt wird, wo unterschiedliche Barrierefreiheitsanforderungen aufeinandertreffen. Nämlich, dass gesagt wird: „Wenn ihr euch nicht einigen könnt, dann machen wir eben nichts. Selbst schuld!“

Einen Lösungsansatz hat unter anderem der Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich (BSVÖ) in einem Artikel zur Pride-Week aufgezeigt: Es gibt viele Möglichkeiten genderneutraler Formulierungen – z.B. Arbeitskraft, Bedienstete usw. 

In der Realität – wenn schnell etwas geschrieben werden muss -, ist es aber jedenfalls einfacher, ein Zeichen zu tippen, als sich andere Worte zu überlegen oder zu recherchieren. Für diesen Fall oder wenn es keine Möglichkeit einer neutralen Formulierung gibt, empfiehlt der BSVÖ übrigens – anders als der DBSV – den Gender:Doppelpunkt – Vielfalt!

Ich denke, die Diskussion sollte auf einer ganz anderen Ebene geführt werden.

Zunächst müssen alle – sowohl die direkt Betroffenen aus der LGBTQI+-Community und Menschen mit Behinderung bzw. Beeinträchtigung als auch alle, die sich darüber hinaus mit gendergerechter Sprache und/oder Barrierefreiheit beschäftigen, eine Tatsache anerkennen und aushalten:

Im absolut berechtigten Interesse und in Solidarität mit der von vielfältiger Diskriminierung betroffenen Gruppe der LGBTQI+-Personen wird für Teile einer anderen ebenfalls von vielfältiger Diskriminierung betroffenen Gruppe der Personen mit Behinderung bzw. Beeinträchtigung eine Barriere eingezogen.

Und nun ist es an der LGBTQI+-Community, sich ebenfalls solidarisch mit den absolut berechtigten Interessen von Menschen mit Behinderung zu zeigen. Dazu gehört, endlich für Barrierefreiheit aller Orte und Veranstaltungen im LGBTQI+-Spektrum zu sorgen.

Weiters gilt es, Ableismen und Ageismen in der eigenen Bezugsgruppe zu reflektieren, denn die Buntheit des Regenbogens umfasst nicht nur die medial bevorzugten jungen, dynamischen Menschen, sondern auch Menschen mit Behinderung und ältere Menschen. Und schließlich kann man sich mit Anliegen solidarisieren, die auf den ersten Blick gar nichts mit der eigenen Bezugsgruppe zu tun haben, wie z.B. Persönliche Assistenz für alle, die es brauchen.

Wechselseitige Solidarität und Unterstützung unter marginalisierten Gruppen wäre generell ein gesellschaftspolitisch wichtiges und kluges Vorgehen. Es bedeutet eine Stärkung für alle.

Es verhindert, dass Politik und Gesellschaft versuchen, benachteiligte Gruppen klein und einzeln zu halten, indem man sie (finanziell) gegeneinander ausspielt. Und es ist ein klares Zeichen gegenüber einer scheinbaren Mehrheitsgesellschaft, die alles, was nicht einem bestimmten Standard entspricht, an den Rand drängen will.

Dies wird in Zukunft für alle notwendig sein, wenn die Politik uns einreden will, dass wir uns gesellschaftliche Gleichstellung aller gerade nicht leisten können.

Zum Abschluss noch eine Anmerkung zum Thema Leichte Sprache

Gender-Sonderzeichen sind in Leichter Sprache ein absolutes No-Go. Keinesfalls sollte aber unter dem Aufhänger der Leichten Sprache jeweils nur die männliche Form verwendet werden. Gerade Menschen mit Lernschwierigkeiten werden von ihrem Umfeld häufig nicht in ihrer Geschlechtsidentität wahrgenommen und respektiert.

Sprache schafft Bewusstsein und die Verwendung jeweils der weiblichen und männlichen Form – Selbstvertreterinnen und Selbstvertreter – auch in leichter Sprache kann für Frauen und Männer mit Lernschwierigkeiten dazu beitragen, mehr Selbstbewusstsein in der eigenen Geschlechtsidentität zu entwickeln.

Siehe auch diesen interessanten Artikel.

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11 Kommentare

  • Sehr guter Artikel, wirklich gut formuliert! Danke!

  • Richtig ist, erwachsene Kinder einfach kindisch sein zu lassen und das generische Maskulinum zu nutzen. Ich handhabe es nämlich so. Wer nicht zwischen Genus und Sexus unterscheiden kann, wer Miterbeitende statt Mitarbeiter schreibt, sollte noch einmal die Schulbank drücken statt Andere zu belehren, so einfach. Eine Psychotherapie muss auch angedacht werden, wenn sich Menschen mangels Sternchen nicht wahrgenommen fühlen.

    • Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass die Trennung von Genus und Sexus im Deutschen nicht funktioniert, und dass Gendern einen maßgeblichen Einfluss auf Informationsverarbeitung bei Lesenden hat (ich mag etwa diese: https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0261927X01020004004).
      Aber es freut mich natürlich, dass Sie etwas zum Sudern haben.

    • Warum überhaupt muss ständig an das (richtige) Geschlecht gedacht werden? Studien zeigen auch, dass beim Gendersternchen bevorzugt an Frauen gedacht wird, andere Geschlechter haben weiterhin das Nachsehen – und geschlechtergerechter wird es dadurch auch nicht, andere Völker mit grundsätzlich geschlechtsneutraler Sprache sind deswegen nicht fortschrittlicher als deutschsprachige. Lassen Sie die Leute doch an einen Arzt denken, wenn von Ärzten die Rede ist, solange auch Frauen bei uns diesen Beruf ergreifen können.

      Dabei sind Berufsbezeichnungen noch das geringste Problem. Das Mädchen ist sächlich und ein Mensch weiblichen Geschlechts. Das dürfte den anscheinend überarbeiteten Gender Studies-Sternchen noch nicht aufgefallen sein, sonst wären wir schon längst belästigt worden mit einer hässlichen Alternative für Kinder.

      Schön übrigens, dass ich Ihnen so einfach eine Freude bereiten konnte. Ich bleibe dabei: denn Hype einfach ignorieren und diesen offensichtlich sehr leidenden Menschen eine Psychotherapie empfehlen.

    • Ihre Meinung zur Sinnhaftigkeit von gendersensiblen Schreibweisen sei Ihnen unbenommen. Ich empfinde es aber als äußerst abwertendund diskriminierend, wenn Sie Menschen, die in ihrer Geschlechtsidentität gleichwertig wahrgenommen werden wollen als psychisch krank und therapiebedürftig abstempeln.

    • Ich würde mir wünschen, dass es alsbald EINE Lösung gibt, denn diese wäre dann z. B. auch technisch behandelbar und es wäre möglich, erneut Lesbarkeitsansätze umzusetzen. Nunmehr gibt es minimum 3-5 Lösungen, alle paar Monate eine neue. Schon alleine DAS ist nicht barrierefrei.
      Einzig Microsoft ist konsistent, indem man sich dieses Themas noch nicht angenommen hat – nach Foren-Angaben eben wegen der ständig wechselnden Schreibweisen.

    • @ Barbara Levk: Psychische Krankheiten sind hoffentlich weder eine Abwertung noch diskriminierend, auch dann nicht, wenn dies Gesunden achgesagt wird. Beim Thema Frauengleichberechtigung geht es ZB längst nicht mehr um Gleichberechtigung, sondern Gleichstellung, ein Begriff aus dem Behindertenbereich. Denn gleichberechtigt sind Frauen bei uns. Mein Vorschlag, Frauen ebenfalls als behindert einzustufen und das Pflegestufensystem einzuführen, wurde bisher emport zurückgewiesen – Frauen sind doch nicht behindert! Die Forderungen jedoch sind immer mehr derart, dass ein Behindertenpass und eine Einordnung in eine Pflegestufe gerechtfertigt wären. Das Problem in Wirklichkeit: behindert und krank zu sein ist ein Makel und man muss sich dafür schämen. Das schimmert zwischen den Zeilen so gut wie bei jedem durch, meistens unabsichtlich.

      Ja, ich finde Menschen behandlungsbedürftig, die meinen, überall zu kurz zu kommen. Das kann doch kein schönes Leben sein.

      Die Gleichberechtigung war einmal tatsächlich für Ausnahmefälle gedacht, wo dies auch psychologisch und biologisch nachzuweisen war. In Deutschland soll bald jeder jährlich sein Geschlecht bestimmen dürfen, auch wenn es den biologischen Fakten widerspricht. Warum dann nicht gleich auch das Alter, die Spezies und die Haarfarbe (ohne zu färben)?.

      Ich anerkenne die Grenzen und Möglichkeiten der deutschen Sprache und fühle mich auch dann gesehen, wenn von Männern die Rede ist, weil sowohl rechtlich als auch faktisch Frauengleichberechtigung hergestellt wurde. Kein Kunde hat bisher erstaunt ausgerufen, dass er eigentlich einen Mann erwartet hätte. Wer das nicht sieht und sich nicht wahrgenommen fühlt, leidet eben vermutlich unter depressiven Symptomen und Wahrnehmungsstörungen, was nun wirklich eine professionelle Behandlung nahelegt, im eigenen Interesse.

  • Sehr geehrte Frau Levc,
    Danke für Ihren ausführlichen Artikel. Sie beleuchten viele wichtige Seiten von diesem Thema.
    Im letzten Punkt bin ich aber ganz anderer Meinung:
    Ich glaube nicht, dass „Gender-Sonderzeichen in Leichter Sprache ein absolutes No-Go“ sind.
    Menschen, die Leichte Sprache verwenden, sind genauso vielfältig wie Menschen, die schwere Sprache verwenden. Das betrifft auch das Geschlecht.
    Ich finde es nicht daher nicht passend, wenn in Leichte-Sprache-Texten nur Frauen und Männer sichtbar sind. Es gibt noch so viel mehr!
    Menschen, die Leichte Sprache verwenden, haben außerdem ein Recht darauf, dass Ihnen zugetraut wird, aktuelle Entwicklungen zu verstehen und mit zu leben. Das ist für mich ein wesentlicher Bestandteil von Inklusion.
    Ein tolles Beispiel, wie in Leichter Sprache dieses „noch viel mehr“ erklärt werden kann, ist diese Webseite: https://undnochvielmehr.com/

    • Liebe Frau Udl!
      Vielen Dank für Ihren Kommentar! Ich empfinde ihn als große Bereicherung, da ich selbst keine Expertin für Menschen mit Lernschwierigkeiten bzw. Leichte Sprache bin und hier etwas wiedergegeben habe, dass ich bisher von Personen, die in diesem Bereich tätig sind mitbekommen habe. Ich gebe Ihnen vollkommen recht, dass auch Menschen mit Lernschwierigkeiten in ihrer gesamten geschlechtlichen Vielfalt wahrgenommen werden sollten und muss hier eingestehen, dass ich wol in die !vorauseilende Überbehütungsfalle! getappt bin. Daher nochmals vielen Dank – ich werde das sehr gern in alle zukünftigen Diskussionen des Themas einbringen.
      Beste Grüße
      Barbara Levc