Chancen und Risiken bei Sozialhilfe-Novelle: Jetzt Verbesserungen umsetzen und nicht zuwarten!

Seit Jahren wird das von der türkis-blauen Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz beschlossene Sozialhilfe-Grundsatzgesetz (SH-GG) wegen seiner katastrophalen Auswirkungen heftig kritisiert. Ein Kommentar.

Bauklötze
Norbert Krammer

Die Opposition forderte Hand in Hand mit vielen NGOs, kirchlichen und humanitären Institutionen Verbesserungen oder auch die völlige Neu- und Bessergestaltung des Zweiten Sozialen Netzes – stieß aber vor allem bei der ÖVP, die nun mit den Grünen eine Regierungskoalition bildet, auf eine Mauer der Abwehr.

In der letzten Aprilwoche 2022 überraschte VP-Klubobmann August Wöginger in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem grünen Sozialminister Johannes Rauch mit der Ankündigung, dass man mit einer kleinen Reform aufgetretene Härtefälle der Sozialhilfe beseitigen wolle.

Die wichtigsten Festlegungen werden hier kurz besprochen:

Mutlose Reformansätze

Es bleibt bei den alten Sozialhilfe-Grundsätzen, dass weiterhin Höchstsätze armutsvermeidende Hilfen verhindern und immer noch Mindeststandards als Qualitätsmarken der Vergangenheit angehören. Geringere Leistungen, Ausgrenzungen und die Unübersichtlichkeit der länderweise unterschiedlichen Regelungen werden sogar noch zunehmen.

Es formt sich immer mehr ein Zweites Soziales Netz mit zunehmenden Gemeinsamkeiten zur alten Armenfürsorge und wenig Ambitionen zur modernen menschenrechtsbasierten Armutsbekämpfung.

Eine besonders unverständliche Finte der Leistungsschmälerung bei Wohneinrichtungen, die Reduktion des Richtsatzes für alle Bewohner:innen, wird nun dank der Bekämpfung von Härtefällen zurückgenommen:

Bei der Definition einer Haushaltsgemeinschaft kann der Landesgesetzgeber bei zielgruppenspezifischen Wohnformen – also beispielweise therapeutische Wohngemeinschaften, Wohneinrichtungen für Frauen, Menschen mit Behinderungen, Jugendliche oder Wohnungslose – von der Reduktion der Richtsätze absehen.

Das ist eine wichtige Klärung für die Bundesländer, die bisher noch keine bessere Lösung umgesetzt hatten. Besonders in Niederösterreich und in Oberösterreich kann diese Härtefallregelung endlich die notwendige Verbesserung bringen.

Aber Vorsicht: Mit der Novelle des SH-GG bekommen die Länder nur die Ermächtigung, die Haushaltsgemeinschaften neu mit Ausnahmen zu definieren. Noch muss man zuversichtlich sein, dass die Länder die Chance für die Verbesserung nutzen und nicht, so wie bisher, bestehende Spielräume ungenutzt verpuffen lassen.

Subsidiär Schutzberechtigte sehen Hoffnungsschimmer

Mit der Novelle wird den Ländern die Möglichkeit eingeräumt, Menschen mit rechtmäßigem Aufenthalt aber Ausschluss aus der Sozialhilfeleistung durch das SH-GG, mittels Privatrecht nach strenger Anspruchsprüfung Unterstützung zum Lebensbedarf und zum Wohnbedarf dann zu gewähren, wenn diese nicht anders gesichert sind.

Auch die notwendige Einbeziehung in die Krankenversicherung ist nun im Rahmen des SH-GG möglich. Die Personen, die von der neuen Regelung profitieren könnten, sind insbesondere subsidiär schutzberechtige Menschen, die bisher – zumindest nach dem Willen des Bundesgesetzgebers – auszuschließen waren.

Da die Not dieser Menschen immer drängender und offensichtlicher wurde, fanden einige Bundesländer andere Regelungen und sicherten zumindest im Rahmen der Grundsicherung ein mageres Überleben. Wieder ist die Problematik besonders fatal in Niederösterreich und Oberösterreich.

Zwei wesentliche Schwächen bleiben bestehen: Es ist nur eine Kann-Bestimmung und damit keine Pflichtleistung vorgesehen und somit bleibt die Absicherung dem tagespolitischen Kräftespiel überlassen.

Und auch die Regelung in Hinblick auf die Krankenversicherung ist missverständlich – es könnte auch die Versicherung singulär ohne Lebensbedarf gewährt werden – und als Kann-Bestimmung ohne Rechtsanspruch im Krankheitsfall. An diesen Stellen wurde die Novelle mehr plakativ als sozialpolitisch wirksam eingefädelt.

Pflegegeld kein Einkommen mehr

Das SH-GG hat bereits festgelegt, dass das Pflegegeld nicht als Einkommen der pflegebedürftigen Person bei der Berechnung eines Sozialhilfe-Anspruchs angerechnet werden darf. Diese Regelung steht im Einklang mit den Bestimmungen des Bundes-Pflegegeld-Gesetzes und war unstrittig.

Sehr kritisch war die – teilweise schon vor dem SH-GG bestehende – Praxis, dass das Pflegegeld in voller Höhe als Einkommen bei der pflegenden Person angerechnet wurde, wenn das Pflegegeld von der gepflegten Person an die im gemeinsamen Haushalt lebende pflegende Person weitergegeben wurde. Und das, obwohl diese innerfamiliäre Pflegesituation meist als sehr positiv und die Selbstbestimmung unterstützend angesehen wurde, weil man stationäre Aufenthalte damit vermeiden konnte.

Doch diese Anrechnungspraxis reduzierte das Haushaltseinkommen erheblich oder verhinderte teilweise sogar einen Anspruch auf Sozialhilfe-Unterstützung. Die selbstgewählte Pflege im eigenen familiären Umfeld und durch selbstgewählte Pflegepersonen erhöht die Selbstbestimmung enorm und ist darüber hinaus auch kostengünstiger als ambulante Dienste mit weniger Stunden oder stationären Einrichtungen.

Endlich wird – nun verbindlich – diese Anrechnungspraxis durch eine kleine Änderung der Vergangenheit angehören und das Pflegegeld in einer umfassenderen Interpretation die pflegebedingten Mehraufwendungen – vermutlich großteils – abdecken.

Sonderzahlungen müssen nicht mehr abgeliefert werden

Die Novelle sieht auch hier nur eine Kann-Bestimmung vor: Bei Sonderzahlungen aus der Erwerbstätigkeit kann die Anrechnung unterbleiben, wird hier formuliert. In den Erläuterungen zum Beschluss wird darauf hingewiesen, dass diese neue Regelung auch auf Sonderzahlungen aus Pensionsleistungen anzuwenden ist. Warum dies nur versteckt und mit einem undeutlichen Verweis erfolgt, können vermutlich nur die Koalitionspartner beantworten.

In den letzten Jahren haben viele armutsbetroffene Menschen mit Bezug von Sozialhilfe bis zu einem Sechstel ihrer Pension durch die Anrechnung als Einkommen verloren bzw. dem Sozialhilfeträger abgeliefert. Bei verwaltungsfreundlicher Auslegung der bisherigen Anrechnung führt dies – beispielsweise in Salzburg – sogar zur zweimaligen Unterbrechung des Sozialunterstützungsbezuges (wie die Sozialhilfe nun in Salzburg und weiteren Bundesländern genannt wird). Sehr viel Verwaltungsaufwand, befürchtete Nachteile bei der Weitergewährung und in vielen Fällen sogar das Streichen von Sozialhilfeunterstützung durch die Anrechnung von Sonderzahlungen.

Dies kann jetzt ein Ende finden, wenn die Bundesländer, die das SH-GG auch umgesetzt haben (6 von 9 Bundesländern) tatsächlich den Zugriff nun streichen.

Nicht zurückkehren wird – vorerst – die im Mindestsicherungsgesetz noch vorgesehene Sonderzahlung für Kinder und Jugendliche. Aber das sollte auch noch folgen – meinen die Optimist:innen.

Sonderleistungen des Bundes bei Krisen nun anrechnungsfrei

Weil es immer wieder Unklarheiten, ungeschickte Regelungen in Landesgesetzen oder auch Anrechnungen von Zuschüssen des Bundes – aktuelle Beispiele aus den Covid-19-Zuwendungen – gab, hat man sich auf Bundesebene nun entschlossen, die Nicht-Anrechnung bei Sozialhilfe-Leistungen nach dem SH-GG mit der Novelle außer Streit zu stellen.  

Das ist ausnahmsweise keine Kann-Bestimmung, die der Bundesgesetzgeber als Konkretisierung der Bestimmung in § 7 des SH-GG vornimmt, aber trotzdem eine halbherzige Bestimmung, da zu eng definiert. Und es ist zu befürchten, dass schon bald neue Unklarheiten und damit Nachteile auftauchen werden.

Die Regierungskoalition hat bei der aktuellen Novelle zum SH-GG leider auf ein Begutachtungsverfahren verzichtet, sondern den Weg eines Initiativantrages gewählt. Stellungnahmen der Zivilgesellschaft sind in diesem parlamentarischen Weg trotzdem möglich, aber noch nicht sehr verbreitet, und daher hatten nur drei Organisationen die Möglichkeit der Stellungnahme an die Abgeordneten genutzt.

Wie komplex die Anrechnung von Sonderleistungen des Bundes bei Sozialhilfeberechnungen sein kann, hat sich aktuell beim Teuerungszuschuss gezeigt: Denn der Zuschuss wurde über Pensionsleistungen, über AMS-Leistungen und auch im Rahmen der Sozialhilfe, in unterschiedlichen Tranchen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten, gewährt – da verliert auch die Sozialverwaltung manchmal den Überblick.

Neu ist nun, dass nicht nur in der (offenen) Sozialhilfe für Menschen außerhalb von Einrichtungen – und dies wurde in den letzten Jahren immer wieder kritisiert und im SH-GG auf Bundesebene restriktiv neu geregelt – die Anrechnungsproblematik auftritt, sondern vereinzelt auch in der sogenannten geschlossenen Sozialhilfe, also bei stationären Einrichtungen im Seniorenbereich.

Hier wird der Zuschuss als Einkommen der Bewohner:innen bei der Sozialhilfeberechnung zu achtzig Prozent einbezogen und geht defacto an den Sozialhilfeträger über. Für die Bewohner:innen der Senioreneinrichtung verbleibt nur ein Taschengeldbetrag, also 20 Prozent des Teuerungszuschusses.

Nachbesserungsbedarfe für die Regelungen liegen auf der Hand und sollten zeitnah erfolgen.

Erster Schritt: Umsetzung der Novelle als Feuerprobe

Schon bei der Ankündigung der nun vorliegenden Novelle zum SH-GG betonten ÖVP und Grüne, dass den Ländern mehr Spielraum eingeräumt und Härtefallklauseln erweitert werden könnten. Den Ländern wird dafür eine Halbjahresfrist eingeräumt.

Bei der Einführung des SH-GG waren Niederösterreich und Oberösterreich besonders eifrig und setzten das jeweilige Ausführungsgesetz sehr zeitnah um. Es muss nun genau beobachtet werden, ob bei den vom Bund konkret aufgelisteten Verbesserungen eine ähnlich ambitionierte Umsetzung erfolgt.

Nächster Schritt: Neugestaltete Mindestsozialleistung

Während im zweiten Halbjahr 2022 ein Monitoring über die von der Bundesregierung konkret formulierten Verbesserungsmöglichkeiten nötig ist, sollte die notwendige Überarbeitung der Landes-Ausführungsgesetze dazu genutzt werden, die bisher nicht genutzten Spielräume auszuloten und für die armutsbetroffenen Menschen zu optimieren.

Als Beispiel bieten sich hier die Kinder-Richtsätze an, die sehr unterschiedlich – zwischen 21 und 27 Prozent, teilweise auch degressiv – ausgestattet sind. Der VfGH hat den Gestaltungsspielraum ausdrücklich bestätigt.

So könnte rechtlich problemlos ein Richtsatz von 30 Prozent bei unter siebenjährigen Kindern, 32 Prozent bis zum 14. Lebensjahr und dann 35 Prozent vom ASVG-Richtsatz normiert werden. Damit könnte ein erster wirksamer österreichweiter Schritt zur Bekämpfung von Kinderarmut eingeleitet werden.

Jetzt ist Handeln angesagt und weiteres Zögern fahrlässig!

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Ein Kommentar

  • Sehr, sehr wichtig, diese Sachen aufzuzeigen!
    Unsere Politiker:innen wissen nicht, was sie mit diesem Sozialhilfegesetz oder wie es dort oder da anders genannt wird, angerrichtet haben. Die Auswirkungen sind erbärmlich – ein Leben in Würde und innerhalb der Gesellschaft ist unmöglich. Arme Menschen werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Wollen wir das?