Was ist schon normal? Neue und ‚alte’ Normalität

Seit ein paar Wochen ist das Leben für uns alle anders geworden.

corona virus and the new normality
Coronavirus and the new normality von muffinn / CC BY 2.0

Es gibt die so genannte Corona-Krise. Eine Krise ist eine schwierige Zeit. Das Coronavirus (danach ist die Krise benannt) ist sehr ansteckend. Wegen der Corona-Krise haben wir vor allem eines gelernt: Wir dürfen nicht mehr alles das machen, was wir eigentlich machen möchten.

Mit der Corona-Krise ist ein neuer Begriff (ein neues Wort) entstanden. Das Wort heißt ‚neue Normalität’. Das bedeutet: Wir müssen uns anders verhalten als vor der Corona-Krise. Wir müssen Abstand halten. Wir müssen Schutzmasken tragen. Wir dürfen nur bestimmte Dinge tun. Andere Dinge sind (zumindest derzeit) verboten.

Nun hat ein bekannter Politikwissenschaftler etwas gesagt. Politikwissenschaft bedeutet: Wir denken über die Regeln unseres Zusammenlebens nach. Der Politikwissenschaftler heißt Peter Filzmaier. Er hat gestern (22.4.2020) Folgendes in einer Sendung im Fernsehen (die Sendung heißt Zeit im Bild) gesagt:

„Der Begriff der ‚neuen Normalität’ ist sicherlich gut gemeint.“ Dann hat er weiter gesagt: „Es kann in einer Demokratie nicht normal sein, dass bestimmt wird, wann ich überhaupt wo mit wem hingehen kann. Ob und wie ich meinen Beruf ausübe.“ Und er hat am Schluss gesagt: „… normal ist das sicher nicht.“

Demokratie bedeutet: Wir alle, das Volk, die Gesellschaft, wir sind die Bestimmer. Wir bestimmen, wer in unserem Namen Entscheidungen trifft. Entscheidungen treffen heißt: Wer bestimmt, was wir als Gesellschaft tun wollen und was nicht? Was ist uns als Gesellschaft wichtig, was nicht?

So.

Wenn ich die Aussage von Peter Filzmaier lese, fällt mir dazu Folgendes ein:

Viele Menschen mit Behinderungen können sich überhaupt nicht aussuchen, mit wem sie wann wo sein wollen. Weil nämlich Assistenzangebote zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen fehlen. Und weil viele Menschen mit Behinderungen in Heimen wohnen müssen.

Viele Menschen mit Behinderungen können sich nicht aussuchen, ob und wie sie arbeiten und einen Beruf ausüben. Weil es keine gute Schulbildung und keine gute Ausbildung für Menschen mit Behinderungen gibt. Und weil das dann meistens in einer Werkstättenarbeit endet.

Aber da redet kaum jemand darüber. Das ist vielen Menschen komplett egal. Aber für viele Menschen mit Behinderungen ist das die Normalität. Das heißt: Es ist immer so. Und kaum jemanden stört das. Das ist für Menschen mit Behinderungen sozusagen die ‚alte’ Normalität.

Ich finde es gut, dass jetzt viele Menschen über das Wort ‚neue Normalität’ nachdenken.

Eines wäre jedoch wichtig: Denken wir jetzt darüber nach, wem es schon ganz lange und immer noch so geht, dass für jemanden entschieden wird. Dann würden wir aus dieser Corona-Krise vielleicht etwas lernen können – nämlich: Es ist nicht schön, es ist nicht gut und es gehört nicht in eine Demokratie, wenn wir fremdbestimmt werden!

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5 Kommentare

  • Als Sozialarbeiterin und Pflegemutter eines schwer geistig behinderten Buben kann ich den Beitrag nur sehr unterstützen.Die gesperrten Tagesstrukturen machen den Alltag noch schwerer als Kinder daheim zu „unterrichten“.

  • Herzlichen Dank für diesen klugen Beitrag. Es wäre schön, wenn viele ihn lesen und verstehen würden.

  • Langzeitsarbeitslosen gehts auch nicht viel besser. Werden unter Androhung der Sanktionenpeitsche von einem Sinnloskurs in den nächsten geschoben. Jetzt ist dank COVID-19 für ein paar Monate Pause.

    Das Problem ist: Zu viele lassen sich noch bevormunden und die anderen glauben, die Hilfskonzerne, das seien die Guten … (gut gemeint ist vieles, aber was daraus wird …)

    Den in die Alten- und Pflegeheime abgeschobenen Menschen gehts auch nicht viel besser.

    Wohne in einem kleinen Ort mit einem Pflegeheim (im Exwirtshaus) und einer Behindertenwerkstätte am Rande des Ortes. Draußen stehen immer die Autos der Betreuer. Aber was sonst passiert, weiß eigentlich keiner, integriert ins Ortsleben – fall es ein solches noch gibt – sind beide Einrichtungen nicht im Geringsten. Die betreuten verlassen selten die Betreuungseinrichtungen. Die Behinderten habe ich bis jetzt noch nie gesehen … (Der SÖB könnte auch ein Fake sein ;-))

    Arbeitsteilung in der Industriegesellschaft.

    Ivan Illich hatte schon vor 40 Jahren den Begriff „Entmündigung durch Experten“ für die Dienstleistungsgesellschaft geprägt.

    Die „Megamaschine“ wird nach kurzer Unterbrechung wohl weiter machen wie bisher, auper es kommt doch zu einem grundlegenden Umdenken. Wir kennen ja nicht einmal einen hypotetischen zweiten bewohnbaren Plaenten und zerstören dennoch den einzigen auf dem wir leben …

  • Liebe Ursula!
    Vielen Dank für diesen Artikel!
    Elisabeth Löffler

  • Wie wahr!