Verdachtsfall Behindertenhilfe

Wer sich mit den Themen rund um Menschen mit Behinderungen näher beschäftigt, ist nicht wirklich überrascht darüber, dass diese Personengruppe in der medialen Berichterstattung zur COVID-19-Krise kaum bzw. nur am Rande vorkommt (wobei es einige bemerkenswerte Ausnahmen gibt).

Tafel mit der Aufschrift Wien
BilderBox.com

Das beweist einmal mehr, dass Menschen mit Behinderungen nach wie vor eine Randgruppe in unserer Gesellschaft sind und auch als solche (nicht) wahrgenommen werden.

Leider zeigt sich das nun auch immer deutlicher im konkreten Umgang mit Menschen mit Behinderungen und deren UnterstützerInnen im Zuge der Bewältigung der COVID-19-Krise. So sind wir im Rahmen der Behindertenhilfe derzeit mit Vorgängen konfrontiert, die zum Teil als fahrlässig zu bezeichnen sind.

Hier einige Beispiele:

  • Verdachtsfälle unter MitarbeiterInnen in Einrichtungen, in denen Menschen mit Behinderungen betreut werden,  werden von 1450 mit der Begründung abgewiesen, dass keine vorangige Testung für diese Personengruppe vorgesehen sei. Dass diese MitarbeiterInnen KlientInnen anstecken könnten, die sehr häufig RisikopatientInnen wären, wird dabei genauso außer Acht gelassen, wie die Gefahr der Ansteckung von KollegInnen, die ganze Betreuungssysteme zum Kippen bringen kann. Seit über einer Woche bemühen wir uns darum, zu rascheren Testungen zu kommen, bis dato ohne Erfolg.
  • Menschen mit Behinderungen, die mit spezifischen Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert werden, werden ohne Abwarten des COVID-19-Befunds wieder in häusliche Pflege bzw. in Einrichtungen entlassen.
  • Auch für die Betreuung und Pflege von (amtlich festgestellten) Verdachtsfällen wird den Organisationen keine Schutzausrüstung für die MitarbeiterInnen zur Verfügung gestellt.
  • Die (auch unabhängig von der aktuellen Krise mangelhafte) Aufnahmekapazität von psychiatrischen Akutstationen wird zurückgefahren, was Aufnahmen in psychischen Krisen fast unmöglich macht. Das wiederum bringt die Betreuungssysteme außerhalb des Krankenhauses zum Teil in extreme Belastungssituationen.
  • Nebenbei sei vermerkt, dass die Organisationen der Wiener Behindertenhilfe bis heute keine Finanzierungsgarantie für die durch die COVID-19-Krise entstehenden Kosten erhalten haben.

Die kleinteilige Struktur der Wiener Behindertenhilfe und die Vielfalt der Angebot inklusive der Persönlichen Assistenz sind im Kontext von COVID-19 einerseits ein großer Vorteil: ist doch bei Verdachtsfällen und Infektionen immer nur ein relativ kleiner Kreis von Personen betroffen (anders als in großen Pflegewohnhäusern).

Andererseits scheint die Kleinteiligkeit leider dazu zu führen, dass Menschen mit Behinderungen und ihre UnterstützerInnen einmal mehr unter die Wahrnehmungsgrenze fallen und sowohl medial als auch als Zielgruppe in diversen Krisenstäben nicht vorkommen.

Es bleibt zu hoffen, dass es in Österreichs Spitälern nicht zu Situationen kommt, in denen ÄrztInnen entscheiden müssen, wen sie intensivmedizinisch behandeln und wen nicht.

Folgt man den Empfehlungen der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin zur „Allokation intensivmedizinischer Ressourcen aus Anlass der COVID-19 Pandemie“ vom 20. März 2020 werden Menschen mit Behinderungen, bei denen sehr häufig Komorbiditäten auftreten, wenig Chancen auf eine diskriminierungsfreie Behandlung haben.

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15 Kommentare

  • Dafür gibt es vorgesehene Ansprechpartner und Verfahren, nämlich Gerichte wegen Diskriminierung.

  • Was hilft es, wenn wir hier mehr oder weniger einer Meinung sind, aber nichts unternommen wird?

  • Sehr geehrter Robert Mittermair,

    vielen Dank für diesen Text! Eine „Randgruppe der Gesellschaft“ trifft es sehr gut, leider. Ich habe auch noch nicht daran gedacht oder gefragt, obwohl eine Freundin bei der Lebenshilfe arbeitet und meine Mutter beim Palliativteam und ehrenamtlich beim Hospizverein hilft und in ihrer Freizeit mehrere Menschen mit besonderen Beziehungsansprüchen in Einrichtungen besucht, mit ihnen Einkaufen fährt, zu sich holt,… . Ich bin mit einem guten Bewusstsein für diese Menschen und andere „Randgruppen“ der Gesellschaft (sterbenskranke Personen, ältere alleingelassene Menschen, Personen mit besonderen Beziehungsansprüchen,… ) aufgewachsen. Dennoch habe ich in den vergangenen Wochen noch nicht ein Mal daran gedacht. Ich weiß nur, dass meine Freundin sich völlig selbst isolieren muss außerhalb der Arbeit.

    Ihr Text, Herr Mittermair, ist sehr wichtig. Diese Informationen sollten in den österreichischen Tageszeitungen (Kronen Zeitung, Kleine Zeitung, Der Standard,…) sowie in regionalen Zeitungen zu lesen sein. Nicht nur heute, sondern auch morgen und die Tage darauf sollte man berichten und darüber sprechen. Ich wünsche mir eine Umdenkung der Gesellschaft und werde dank Ihnen Herr Mittermair, bei mir anfangen! Ich werde reden über dieses Thema mit meinen Mitmenschen.

    In Hochachtung und Dankbarkeit,
    Miriam Gridl (20)

  • Keiner darf an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, schon gar nicht in dieser prekären Situation!

  • Liebe LeserInnen, ich erlaube mir zu obigen Beitrag ein kleines Update zu geben. Der beschriebene Fall der Klientin, die ohne Befund entlassen wurde, hat im KAV hohe Wellen geschlagen. Die Generaldirektorin des KAV hat zugesichert, dass Thema der Versorgung von Menschen mit Behinderungen im Kontext der COVID-19-Krise im medizinischen Krisenstab der Stadt einzubringen. Vielleicht trägt das ein wenig zur Sensibilisierung bei… Mittlerweile gibt es auch eine Stellungnahme der Bioethikkommission im Bundeskanzleramt zur Corona-Pandemie, die deutlich differenziert ausfällt, als die oben angesprochenen Empfehlungen. Die Stellungnahme der Bioethikkommission weißt ausdrücklich darauf hin, dass eine Behinderung kein Kriterium in einer möglichen Triage-Entscheidung sein darf. Wir sollten fordern, dass diese Empfehlungen eine verbindlichen Handlungsleitlinie für die IntensivmedizinerInnen werden muss.

  • Ja, danke für den Artikel. Ich stimme Erwin Riess zu, dass ein offener Brief gut wäre.

  • Danke, Robert – für deine klaren, wenn auch traurigen Worte. Das mit der Übernahme der Zusatzkosten durch Covid-19 in Einrichtungen wird sich hoffentlich klären lassen, alles andere ist schlimm.
    Ich befürchte auch, dass letztendlich Menschen mit Behinderungen aufgegeben werden, wenn es hart auf hart geht.
    Zu anderen Zeiten müssen alle „auf Teufel komm raus“ krampfhaft durch die Gerätemedizin am Leben gehalten werden. Es ist letztes Jahr meinem Mann passiert. Sechs Wochen darauf wurde er dann vom selben Arzt in derselben Intensivstation wie eine nasse Kartoffel fallen gelassen. Dazwischen wurde ich gerichtlich zur Erwachsenenvertretung bestellt weil er weder spechen noch schreiben konnte und durch die Medikamente vor sich hin dämmerte. Es kam in meinen Augen einer Nötigung gleich, sonst wäre jemand anderer dazu bestellt worden, weil er zu lang auf der Intensivstation lag… Mein Mann wurde in eine Langzeitbeatmetenstation (Pflegestation) verfrachtet, wie es in OÖ „Sache ist“ (das Land OÖ, Abtlg. Gesundheit bestimmt!), wenn häuslich auf die Schnelle die vorgeschriebenen Bedingungen nicht vorhanden sind bzw. nicht geschaffen werden können. Erschwerend wiegte bei uns meine Behinderung, weil ich bei der erforderlichen gewesenen Intensiv-Pflege nicht mithelfen konnte. Jetzt hat mein Mann hoffentlich „seinen Frieden“ gefunden.

    „Totalegal“ stimme ich zu – wir Menschen mit Behinderungen sind keine Randgruppe oder sollten zumindest keine sein, sondern eine Minderheit. Danke für diese Sensibilisierung.

  • Ein wichtiger und großartiger kommentar! man sollte ihn als offenen brief ausbauen!

  • ausgezeichneter Befund und Appell an das Krisenmanagement, sensibler mit spezifischen Bedarfslagen umzugehen und verstärkt auf individuelle Lösungen bzgl. Schutz und Hilfe zu achten.

  • Könnte eine petition mehr aufmerksamkeit erzeugen?

  • Die Problematik ist präzise zusammengefasst. Ich arbeite auch als Betreuer in diesem Bereich und muss sagen: ich befürchte, die Einschätzungen stimmen genau.

  • Grundsätzlich volle Zustimmung. Danke.
    Allerdings, Randgruppe sind wir keine! Das ist eine absolut diskriminierende Bezeichnung und eine falsche Sensibilisierung der Allgemeinheit. Worte schaffen Bilder und Wirklichkeiten.
    Wir sind eine Minderheit. Leider eben ohne nennenswerte Lobby!

  • danke!!