Danke Judith Heumann

Das war heute kein schönes Erwachen als ich auf Facebook lesen musste, dass Judith Heumann am Nachmittag des 4. März 2023 in Washington, D.C. verstorben ist. Da ich selbst von der oft als Mutter der internationalen Independent Living Bewegung bezeichneten Judy sehr viel gelernt habe und sie mir die Tür zur Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen während eines 15monatigen Aufenthalts in den USA geöffnet hat.

Judith Heumann
Geraldo Magela/Agência Senado

Bei aller Trauer, dass Judy (Judith Heumann) nun nicht mehr durch die Welt wirbeln und alle möglichen Menschen davon überzeugen kann, warum die Menschenrechte von behinderten Menschen umfassend und überall zu achten sind, bietet mir dieser Nachruf auch die Gelegenheit, Danke zu sagen. Danke dafür, was Judy alles für mich und viele andere Menschen getan hat.

„Being Heumann“, so hatte Judith Heumann ihre im Jahr 2020 erschienene Autobiographie getitelt, die sie begleitend zum Film „Crip Camp“ veröffentlicht hatte. Being Heumann, diese Abwandlung des Ausdrucks, menschlich sein, auf ihren Namen beschreibt genau das, was Judy war: sehr menschlich. Diejenigen, die Judy treffen durften, wissen genau von was ich spreche.

Innerhalb kürzester Zeit kam sie mit ganz unterschiedlichen Menschen ins Gespräch

Vor allem interessierte sie sich dabei für die Menschen. Ob es die Flugbegleiter, die Hausmeister waren, die ihr eine Tür öffneten, eine Sekretärin im Vorzimmer eines Abgeordneten oder Barack Obama, innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich ein zuweilen sehr persönliches Gespräch. Und das beeindruckende an Judy war, wenn sie die Leute das nächste Mal traf, dann wusste sie noch wie alt ihre Kinder sind, wo die Person arbeitet und wann sie sich das letzte Mal getroffen haben. Das lag schlichtweg daran, dass sich Judy für die Menschen um sie herum interessierte – und das waren sehr viele.

Während meines Studiums hatte mir Judy die Tür für verschiedene Praktika in den USA geöffnet. Am Rande einer Konferenz im Jahr 1988 in Köln sprach ich sie an, ob sie Möglichkeiten für ein Praktikum für mich in den USA sieht. „Write me a letter“, war ihre knappe Antwort. Zum Glück habe ich diesen Brief geschrieben, durch den vieles für mich in Gang kam.

„Call me“ oder „You have to talk to …“ waren weitere Standardsätze von Judy, denn sie war eine begnadete Vernetzerin, sozusagen ein rollendes Netzwerk. Ihr Büchlein mit Telefonnummern und Adressen von Aktiven aus der ganzen Welt war ihr Markenzeichen und wohl bestes Lobbyinstrument.

Wann Judy schlief, das haben sich viele gefragt

Während ihrer Zeit als Vizepräsidentin des World Institute on Disability in Berkeley, Kalifornien nutzte sie die verschiedenen Zeitzonen, um mit Menschen aus allen Teilen der Welt zu kommunizieren. Morgens um 5 Uhr, als es in Washington schon 8 Uhr war, hing sie oft schon am Telefon und bearbeitete Aktivist*innen und Abgeordnete, was getan werden muss. Und nachts um 0:00 Uhr telefonierte sie mit Aktiven in Europa oder Asien.

Ihr Engagement und vor allem das vernetzte Vorgehen brachte viele Erfolge mit sich. In den 70er Jahren besetzte Judy mit anderen Aktivist*innen für mehrere Wochen ein Bundesgebäude in San Francisco mit dem Erfolg, dass der Paragraph 504 des US-amerikanischen Rehabilitationsgesetzes (Rehabilitation Act) verabschiedet wurde. Das bot die Grundlage für erste umfassende Antidiskriminierungsregelungen in den USA mit dem Prinzip „kein Cent aus Bundesmitteln an Projekte und Vorhaben, die behinderte Menschen diskriminieren“.

Der Americans with Disabilities Act, der im August 1990 mit einer großen Zeremonie auf dem Rasen des Weißen Hauses vom damaligen US Präsidenten Georg H. W. Bush unterzeichnet wurde und Diskriminierungen im privaten Bereich umfassend sanktioniert, ist ein weiterer Erfolg, an dem Judy entscheidend mitgewirkt hat. Diese und ähnliche Geschichten werden im Film Crip Camp gut dargestellt, der sogar für einen Oscar nominiert war.

Was man in Filmen und Büchern jedoch nur schwer vermitteln kann, ist die Art von Judy, ihre unglaubliche Menschenfreundlichkeit, die sie im positiven Sinne zu einer Menschenfängerin für ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Lebens behinderter Menschen gemacht hat. Wenn meine Frau und ich Judy vom Flughafen in Frankfurt für eine ihrer Touren, die sie auch durch Deutschland immer wieder gemacht hat, abgeholt haben, wusste sie nach der zweistündigen Zugfahrt mehr über die Aktiven der deutschen Behindertenbewegung als viele Aktive hierzulande.

Obwohl sie allen Grund gehabt hätte, vom anstrengenden Flug und der Zeitumstellung müde zu sein, interessierte sie sich für alles und jeden. Ein solches Gespräch mit ihr machte einfach Spaß, denn Judy war auch lustig. Ihr Lachen habe ich heute, obwohl ich sie mehrere Jahre nicht treffen durfte, immer noch im Ohr.

Judith Heumann
Judith Heumann

Judy war das gelebte Empowerment

Wenn wir hierzulande heute von Empowerment – leider meist in einem recht trockenen und abgehobenen Sinne – sprechen, war Judy das gelebte Empowerment. Sie war so pragmatisch, dass es zuweilen richtig anstrengend mit ihr war. Hörte sie von einer Herausforderung oder einem Problem, dauerte es nicht lange, bis sie eine Idee hatte und der Satz „You have to call …“ kam.

Und ein solcher Anruf führte nicht selten dazu, dass Lösungen gefunden wurden. Mir persönlich wurde Judy nicht nur zu einer Freundin, die ich leider viel zu selten sah, sondern auch zu einer Ermöglicherin, denn ohne sie wäre ich nie so intensiv in die Selbstbestimmt Leben Bewegung gekommen. Sie nahm mich während meiner 15 Monate in Berkeley zu vielen Treffen mit, sie stellte mich unendlich vielen Menschen vor und mit ihr durfte ich auch zu den Hearings ins Capitol zum Americans with Disabilities Act.

An ihrer Seite durfte der 1989 noch zuweilen recht schüchterne German am Rande einer Independent Living Konferenz zum Weißen Haus in strömendem Regen für den Americans with Disabilities Act demonstrieren. Und mit Judith durfte ich auch viele schöne ruhige Momente erleben, wo wir einfach zusammensaßen und quatschten. Sie nahm mich und viele andere einfach ganz selbstverständlich in ihre Familie mit auf. Zweimal durfte ich Thanksgiving bei Judy und ihren Lieben verbringen.

Judy selbst hat keine Mühen in ihrem Leben gescheut, trotz Polio, trotzdem, dass sie auf Persönliche Assistenz angewiesen war und einen Elektrorollstuhl nutzte. Judy wurden die Erfolge nicht in die Wiege gelegt, aber als Tocher jüdischer Eltern, die während der Nazizeit aus Deutschland flüchten mussten, um zu überleben, hatte sie den Antrieb, die Welt besser zu machen – und dies ist ihr auch in vielerlei Hinsicht gelungen.

Als Staatssekretärin im Bildungsministerium der USA während der Clinton-Zeit kämpfte sie beispielsweise unermüdlich für die schulische Inklusion in den USA und brachte viel und viele in Bewegung. Das Center for Independent Living in Berkeley hat sie mitgegründet und auch die US-amerikanische Außenpolitik in Sachen Behindertenpolitik hat sie entscheidend mitgeprägt. Was hierzulande heute als Inklusion bezeichnet wird, dafür lebte und stritt Judy schon in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts unermüdlich.

Judith Heumann wurde am 18. Dezember 2022 75 Jahre alt und wer sich auf ihrer Facebookeite umschaut, erkennt schnell, dass sie leicht noch weitere 75 Jahre hätte füllen können. Ihr Buch Being Heumann, der Film Crip Camp, ein regelmäßiger Podcast „Heumann Perspectives“ sind nur einige Aktivitäten, die sie in ihren 70ern noch angezettelt und mit Leib und Seele betrieben hat.

Auch die Gründung der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) und die deutsche Selbstbestimmt Leben Bewegung wurde entscheidend durch das Engagement und die Vernetzung von Judy beflügelt. Judy hat dabei immer an andere gedacht, deren Engagement gewürdigt und viele, viele Menschen gestärkt und empowert.

DANKE JUDY – wir vermissen dich!

Anmerkung der BIZEPS-Redaktion

Judith Heumann mit dem BIZEPS-Team
BIZEPS

Judith Heumann, war als Sonderberaterin des US-Außenministeriums für Rechte von Menschen mit Behinderungen, im Februar 2016 in Österreich und hat u.a. mit Vertreter:innen von BIZEPS über die Situation von Menschen mit Behinderungen hierzulande gesprochen. Es war uns eine große Ehre.

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2 Kommentare

  • R.I.P., Ms. Heumann and Thank You!