Über die Kontinuitäten von „Totalen Institutionen“

Jeder von uns, bei dem schon einmal ein längerer stationärer Aufenthalt in einem Krankenhaus notwendig war, hat – in unterschiedlichem Ausmaß – ein oder mehrere Merkmale bzw. zumindest die Atmosphäre einer sogenannten „Totalen Institution“ kennengelernt.

Pflegewohnheim
Marianne Karner

Anders ausgedrückt: Das Krankenhaus bzw. die Station, die nun der zentrale Lebensmittelpunkt ist, ist eine Welt für sich, mehr oder weniger abgeschlossen, mit festen Strukturen und eigenen Regeln. Diese eigene Welt beschreibt auch Thomas Mann im „Der Zauberberg“ aus dem Jahr 1924.

Doch was sind „Totale Institutionen“ im engeren Sinn? Und: Kann dieser Terminus auch noch heute für z.B. Alten- und Pflegeheime verwendet werden?

Die „Totale Institution“ nach E. Goffman

Erving Goffman (1922-1982) war kanadischer Soziologe. Eines seiner wohl bekanntesten Bücher ist: „Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“ aus dem Jahr 1961.

Dort definiert Goffman „Totale Institutionen“ als „geschlossene Welten“, wie etwa „Gefängnisse, Kasernen, Internate, Klöster, Altenheime, Irrenhäuser“. Der Soziologe beschreibt, was diese Institutionen aus den „Insassen“ machen und gleichzeitig auch, welche Reaktionen bei den „Insassen“ dadurch entstehen können.

Im Umschlagtext der Suhrkamp-Ausgabe steht weiters: „Die zentrale These ist, dass der wichtigste Faktor, der einen Patienten prägt, nicht seine Krankheit ist, sondern die Institution, der er ausgeliefert ist … Diese Gegenwelten zur alltäglichen gesellschaftlichen Welt sind aber in letzter Analyse nur Modelle der Gesellschaft selbst: die Analyse von Extremen wirft Licht auf das, was sich als normal versteht und seine Normalität nur durch die Aussperrung und Einschließung von abweichendem Verhalten beteuern kann.“

Merkmale einer „Totalen Institution“

Goffman beschreibt folgende vier Merkmale (S. 17)

  •  „Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle, unter ein und derselben Autorität statt.“
  • „Die Mitglieder der Institution führen alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen aus …“
  • „Alle Phasen des Arbeitstages sind exakt geplant, eine geht zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt in die nächste über, und die ganze Folge der Tätigkeiten wird von oben durch ein System explizierter formaler Regeln und durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben.“
  • „Die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten werden in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen.“

Siehe dazu auch: Wikipedia-Artikel 

Das Pflegeheim als „Totale Institution“?

Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur zeigt, dass diese Frage bereits formuliert und diskutiert wurde. Der Soziologe Martin Heinzelmann hat dieses Thema für seine Dissertation im Jahr 2004 aufgegriffen: „Das Altenheim – immer noch eine ‚totale Institution‘? Eine Untersuchung des Binnenlebens zweier Altenheime.“

Dazu hat der Dipl. Soz. Arb. Torsten Thomas eine Rezension geschrieben. Quintessenz seiner Rezension: „Heinzelmann resümiert, dass der Begriff der ‚Totalen Institutionen‘ für die gegenwärtigen Heime nicht mehr zutrifft.“ Die Merkmale einer klassischen ‚Totalen Institutionen‘ treffen entsprechend seiner Analyse nur zum Teil und meistens nur in abgeschwächter Form zu. Als Alternative schlägt er daher vor, den Einrichtungstypus als ‚Pseudo-Totale-Institutionen‘ (S. 233) zu bezeichnen.

Prof. Dr. Volker Schönwiese hat im Rahmen eines 2013 gehaltenen Vortrages zu „Thesen zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und die Perspektive der De-Institutionalisierung“ festgehalten: „Nach den nationalsozialistischen Eugenik- und Mordprogrammen hat sich das System der Behindertenhilfe auf der Ebene totaler Institutionen (vgl. Goffman 1973) neu stabilisiert. Diese Institutionalisierung in Großeinrichtungen folgte einem Ordnungs- und Heilungsparadigma, das Disziplinierung, Aufbewahrung, Spaltung in Heilbare-Unheilbare und damit eine neue nur wesentlich verdecktere Eugenik praktizierte.“

Des Weiteren macht Schönwiese drei Phasen der (Weiter-)entwicklung aus:

  1. die Rekonstruktionsphase: von der totalen zur humanisierten Institutionalisierung;
  2. die Phase der Modernisierung über regionalisierte De-Instititutionalisierung und Normalisierung; und
  3. die Menschenrechts-Orientierung.

Schönwiese merkt dazu an, dass diese Phasen, miteinander verschränkt sind, sich überschneiden und sich auch bis heute fortsetzen.

Fazit

Über Begrifflichkeiten zu diskutieren (Heinzelmann, Thomas) halte ich für müßig. Fakt ist, dass die oben genannten Merkmale sehr wohl auch noch heute auf Einrichtungen des Behinderten-, Alten- und Pflegebereichs zutreffen.

Neu gebaute Einrichtungen, die eher an Kasernen erinnern. Einrichtungen, an denen noch immer der Wohn- und Arbeitsort (Werkstätte) ident sind. Da gibt es die Schicksalsgenossen auf der einen Seite und ein Personal mit Verwaltung im Hintergrund und hierarchisch aufgebauten Leitungsebenen auf der anderen Seite.

Es gibt Hausordnungen, Heimverträge und Regeln, die ein selbstbestimmtes Leben nahezu unmöglich machen. Jede Einrichtung hat ein Leitbild, verfolgt einen Zweck, setzt sich Ziele und entwirft Pläne für die Zukunft. Doch ist das noch im Sinne der Schicksalsgenossen?

Dieser Analyse und Kritik sollten sich alle bestehenden Einrichtungen offen und ehrlich stellen. Von den in Wien neu errichteten Pflegewohnhäusern bis hin zum aktuellen Fall, dem Konradinum im Salzburg. Auch den Planern von neuen Einrichtungen sei die Lektüre von E. Goffman dringendst zu empfehlen.

Die „Totalen Institutionen“ wurden und werden aufgeweicht. Es gibt Übergänge und Schattierungen. Bis zur flächendeckenden Versorgung mit menschenrechts-orientierten Einrichtungen ist es aber noch ein langer Weg.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Die Kommentarfunktion für diesen Artikel ist abgeschalten.

4 Kommentare

  • Danke! Mache gerade die Ausbildung zur FSB Altenarbeit und lese deinen Artikel als Teil einer Hausaufgabe für SOZB. Die vergangenen Jahrhunderte können wir offenbar nicht so schnell ändern – zu gegebener Zeit kann und wird es aber besser werden.

  • Totale Institutionen für Autisten ist Wahrheit. Keine Alternative. Totale selektion in Behinderte Bereich. Keine Hilfe für pgligende Angehöriger von erwaksene Autisten. Wie lange noch……

  • All diese Einrichtungen sind Verwaltungs- und BetreuerInnen
    orientiert, nicht Bewohner/PatientInnen orientiert.

    Nachtmahl um 16:15 (!), Blutzuckermessen durch Fingerstich
    am Schlafenden um 5:30, weil die Schwester weg will etc. pp.

    Es geht auch anders!

  • Der Segregationwahn samt organisierter Bevormundung, Diskriminierung und Entrechtung, treibt so lange seine Blüten, wie die Öffentliche Hand Financier und verschworener Partner im Eugenik-Ökonomismus-Syndikat, zusammen mit der Exklusions- Branche bleibt.

    Nebenbei: den Begriff von „menschenrechts-orientierten Einrichtungen“ im Schlusssatz finde ich widersprüchlich in sich. Lösungen oder Optionen würde besser passen. Wenig Leute kämen auf die Idee, ihren Lebens- und Wohnraum als Einrichtung zu bezeichnen.