Vor 30 Jahren: Meilenstein der Antidiskriminierungsgeschichte

Als am 26. Juli 1990 der Americans with Disabilities Act vor mehr als 3.000 Aktiven der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung behinderter Menschen bei einer Zeremonie auf dem Rasen des Weißen Hauses unterzeichnet wurde, war dies ein wichtiger Meilenstein für die internationale Antidiskriminierungsbewegung.

Flagge USA
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kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul nahm damals während seines Studienaufenthaltes in den USA an verschiedenen Aktivitäten im Kampf für dieses Gesetz teil. In seinem Kommentar erinnert er sich an einige Highlights auf dem Weg zu diesem heute noch wirkenden Erfolg.

Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

„Am 26. Juli 1990 unterschrieb US-Präsident George H. W. Bush in einer feierlichen Zeremonie auf dem Rasen vor dem Weißen Haus, im Beisein von mehr als 3.000 geladenen Gästen, den Americans with Disabilities Act (ADA), der somit in Kraft getreten ist.

Präsident Bush bezeichnete damals dieses Gesetz als ‚die erste umfassende Deklaration der Gleichstellung für behinderte Menschen der Welt‘, berichtete der österreichische Online-Nachrichtendienst zu Behindertenfragen BIZEPS anlässlich dieses 30jährigen Jubiläums.

Wenn man sich als junger, noch sehr viel lernender, Mensch inmitten von Geschehnissen befindet, kann man deren Bedeutung meist nicht richtig einordnen. So war das auch während meines USA-Aufenthaltes vom August 1988 bis Dezember 1989.

Ich hatte damals das Glück von einigen Aktivist*innen der US amerikanischen Independent Living Bewegung wie Judith Heumann ans Händchen genommen und zu allen möglichen Aktivitäten der dortigen Behindertenbewegung mitgeschleift zu werden.

„You have to meet …“ war ein gängiger Spruch dieser Netzwerker*innnen bevor ich der nächsten Person vorgestellt und in ein Gespräch verwickelt wurde.

Ausgehend vom Anfang der 70er Jahre ersten Center for Independent Living, die hierzulande Zentren für selbstbestimmtes Leben genannt werden, in Berkeley, Kalifornien, lernte ich so viele Akteur*innen der Behindertenbewegung der USA kennen, reiste durch das Land und befand mich irgendwann auch mitten im Kampf für den Americans with Disabilities Act in Washington, D.C.

Vor 30 Jahre nach der Gesetzesunterzeichnung des US-amerikanischen Antidiskriminierungsgesetzes, erinnere ich mich an einige Etappen des Kampfes für dieses Gesetz, die ich kreuzen durfte und die mich geprägt haben.

Deshalb kämpfe ich heute hierzulande u.a. immer noch gegen Institutionalisierung, Ausgrenzung und dafür, dass wir endlich auch Gesetze mit Biss bekommen, die sicherstellen, dass sämtliche Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zur Barrierefreiheit verpflichtet werden.

Hierzulande ist dies nach wie vor ein sehr mühsamer Kampf und leider sind wir damit noch weit von den Regelungen des am 26. Juli 1990 unterzeichneten US-amerikanischen Americans with Disabilities Act entfernt.

Dieses Gesetz fiel damals nicht vom Himmel. Es brauchte sehr viele Aktivitäten der US amerikanischen Behindertenbewegung. Die Bewusstseinsbildung spielte dabei, vor allem auch unter behinderten Menschen selbst, eine wichtige Rolle.

Hilfreich war natürlich die besondere Geschichte der Bürgerrechtsbewegungen der USA, wo Menschen mit dunkler Hautfarbe, aber auch die Frauenbewegung bereits wichtige Antidiskriminierungserfolge erstritten und das Bewusstsein eines Teils der Bevölkerung schon in diese Richtung geprägt hatten. Darauf konnte die Behindertenbewegung damals aufbauen.

Und diese fing ja nicht von vorne an, sondern konnte auf eigene Erfolge, wie den Rehabilitation Act von 1973, blicken. Mit diesem ebenfalls hart erkämpften Gesetz wurde festgeschrieben, dass bei sämtlichen von der Bundesregierung geförderten Aktivitäten und Angeboten behinderte Menschen nicht benachteiligt werden dürfen. Universitäten, eine Reihe von Bussen, soziale Angebote etc. wurden daraufhin fortan weitgehend barrierefrei gestaltet.

Das Problem war in den USA damals, wie es heute noch hierzulande der Fall ist, dass damit nicht die vielen privatwirtschaftlichen Angebote erfasst wurden. Kinos, Läden, etc. durften also nach wie vor behinderte Menschen diskriminieren, ohne dass es dafür eine gesetzliche Handhabe gab.

Darauf machte die Behindertenbewegung durch vielfältige Protestaktionen, Demonstrationen, Presseveröffentlichungen, bis hin zu Anhörungen in den einzelnen Bundesstaaten und letztendlich im Kapitol in Washington aufmerksam.

Bei zwei dieser Anhörungen – einmal in San Francisco und dann im Kapitol in Washington – konnte ich als Zuschauer dabei sein. Wichtig waren dabei die vielen persönlichen Beispiele von erlebten Diskriminierungen, die Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen sehr anschaulich und zum Teil sehr emotional schilderten.

Dies ließ so manchen Abgeordneten und letztenendlich auch Präsident Bush nicht ungerührt, wie sich in seiner Rede zur Unterzeichnung des Gesetzes zeigt.

Natürlich brauchte es auch die Menschen, die an der konkreten Entwicklung des Gesetzes arbeiteten und letztendlich um Satz und Komma feilschten. Eine Devise bei diesem Schachern für ein gutes Gesetz war, dass man im Grundsatz nicht nachgibt, sondern lediglich bei den Zeiten der Umsetzung Kompromisse machte.

Diese Linie war zum Teil hart zu halten und es war auch nicht einfach, die verschiedenen Behindertengruppen zusammen zu halten, aber am Ende war diese Strategie weitgehend erfolgreich.

Und dann waren da auch noch Ereignisse, die den Weg des Gesetzes prägten. Einem dieser Ereignisse konnte ich beiwohnen, als bei der nationalen Independent Living Konferenz im Herbst 1989 in Washington D.C. eine Spontandemonstration zum Weißen Haus durchgeführt wurde.

Es regnete an diesem Tag in Strömen, kaum jemand war auf der Straße und wir standen mit ca. 200 Demonstrant*innen im strömenden Regen und im Dunkeln lange vor dem Weißen Haus und forderten, mit dem Präsidenten zu reden, um dessen Untestützung für das Gesetz zu gewinnen.

George Bush kam zwar nicht zu uns heraus bzw. bat uns auch nicht ins Weiße Haus, die Gruppe der völlig durchnässten Demonstrant*innen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen schindeten aber anscheinend so viel Eindruck, dass verkündet wurde, dass sich der Präsident in den nächsten Tagen mit Vertreter*innen der Behindertenbewegung treffen würde.

Daraus erwuchs dann letztendlich dessen Unterstützung für das Antidiskriminierungsgesetz, was natürlich auch ein wichtiges Zeichen für die Abgeordneten war.

Ein solches Gesetz hat am Ende natürlich viele Väter und Mütter – und das ist wahrscheinlich auch gut so, denn die Verabschiedung und Unterzeichnung eines Gesetzes ist ja nur ein Schritt, dem dann sehr viele Schritte für eine konsequente Umsetzung folgen müssen.

Es waren aber vor allem auch Menschen, wie der bei den Republikanern aktive Justin Dart, der als Behindertenbeauftragter der USA in den Folgejahren öfters Deutschland besuchte und für ähnliche Antidiskriminierungsbestimmungen hierzulande warb.

Judith Heumann, ein Urgestein der Selbstbestimmt Leben Bewegung hatte bereits als junge Erwachsene geklagt, weil sie wegen ihrer Körperbehinderung nicht Lehrerin werden durfte. Sie brachte Himmel und Hölle in Bewegung, um dieses Gesetz durchzubekommen. Ein paar Jahre später wurde sie dann Bildungsstaatssekretärin während der Clinton-Ära.

Marilyn Golden vom Disability Rights, Education and Defense Fund (DREDF), einer Bürgerrechtsorganisation behinderter Menschen, leistete unermüdlich Lobbyarbeit in Washington und vielen Teilen der USA. Und viele, viele andere Aktive in der Bewegung, der Verwaltung, den Regierungen etc. sorgten fortan dafür, dass Mauern der Ausgrenzung und damit viele Barrieren in den USA fallen konnten.

Und wie ich bei einer Demonstration durch Manhatten am 26. Juli 1993 erleben durfte, zu der ich als Redner geladen war, die US-amerikanische Behindertenbewegung vermochte es, ihre Erfolge mit stolz zu feiern und diese zu „verkaufen“, um die weitere Umsetzung des Gesetzes voranzutreiben.

In den Folgejahren war ich immer wieder in den USA und kreuzte Aktivitäten der US-Behindertenbewegung. So wurde ich als Gast zu einem Empfang mit dem dann schon nicht mehr amtierenden Präsidenten Bush geladen. Ziel war, dass sich dieser fortan auch international für die Gleichstellung behinderter Menschen stark machen solle.

Der Plausch mit ihm und der anschließende kurze Besuch in seinem Landhaus war zwar recht aufregend und von der Behindertenbewegung strategisch gut organisiert, führte aber nicht wirklich zum erwarteten Erfolg.

Dieser entwickelte sich jedoch einige Jahre später mit dem Prozess und letztendlich mit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 2006.

In die Behindertenrechtskonvention sind viele Grundsätze des Americans with Disabilities Acts eingeflossen, die nun hoffentlich auch uns endlich helfen, dass auch hierzulande private Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zur Barrierefreiheit verpflichtet werden.

Die Verabschiedung des Americans with Disabilities Act von 1990 hatte gezeigt, dass und wie Antidiskriminierung behinderter Menschen auch im privatrechtlichen Bereich geht – und das war wahrscheinlich der größte Erfolg dieses Gesetzes. Niemand konnte fortan nämlich mehr frei heraus behaupten, „das geht nicht“, wenn es im Urland des Kapitalismus weitgehend funktioniert.

Und heute blicke ich täglich, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass mein Sohn und vieler Freunde in den USA leben, mit Entsetzen auf aktuelle Nachrichten aus diesem riesigen Land.

So wichtig die vor 30 Jahren erfolgte Unterzeichnung des Americans with Disabilities Act auch heute noch ist, so viele positive Veränderungen das Gesetz in Sachen Barrierefreiheit und Bewusstseinsbildung gebracht hat, so miserabel gestaltet sich auf der anderen Seite derzeit das Leben vieler behinderter Menschen in dem von einem unsäglichen Präsidenten und der Corona-Pandemie heimgesuchten Land.

Benachteiligte Gruppen leiden in dieser massiven Krise besonders unter Ansteckungen bzw. der Ansteckungsgefahr, dem ungerechten Gesundheitssystem, den wirtschaftlichen Folgewirkungen wie einer massiv gestiegenen Arbeitslosigkeit und damit unter den Schattenseiten des Kapitalismus.

Ohne den Americans with Disabilities Act, der übrigens immer wieder verteidigt werden muss, wäre diese Situation allerdings noch viel schlimmer. So wie die Behindertenbewegung hierzulande hat also auch die US-amerikanische Behindertenbewegung noch viel zu tun.

Deshalb ist es wahrscheinlich auch wichtig, sich immer wieder auf erzielte Erfolge zu besinnen und daraus Kraft für neue Herausforderungen zu schöpfen.

Für diejenigen, die der englischen Sprache einigermaßen mächtig sind, lohnt sich ein Blick vom Video von der Unterzeichung des Americans with Disabilities Act vom 26. Juli 1990 mit der Rede des US Präsidenten George H. W. Bush.

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